Arbeitspapier | Working paper

Einladung zum Schattenboxen: die Soziologie und die moderne Biologie

"Die moderne Biologie, speziell Genetik und Neurobiologie, scheinen die handlungstheoretische Basis der Soziologie in Frage zu stellen. Widerlegen ihre neuesten Ergebnisse tatsächlich Axiome, deren Fortfall das soziologische Theoriegebäude einstürzen ließe? Diese Axiome beziehen sich auf unser Menschenbild. Diesem Menschenbild zufolge hat der im Prozess primärer und sekundärer Sozialisation geprägte Akteur soziokulturell geformte Präferenzen, die sein Handeln leiten. Er ist offen für seine Umwelt und reproduziert in seinem Handeln kulturell vorgegebene Muster. Die moderne Genetik scheint das Verhältnis zwischen Natur und Umwelt, nature and nurture in der Bestimmung des menschlichen Handelns zugunsten der Natur zu verschieben. Bei genauerer Betrachtung bestätigt sich jedoch, dass der handelnde Mensch der Soziologie ganz überwiegend ein Produkt der Sozialisation in eine historisch geformte Gesellschaft hinein ist. Die Genetik defi niert lediglich die äußerste Grenze soziokultureller Formbarkeit. Die Hirnforschung stellt den autonomen Akteur in Frage und macht Bewusstsein zum Epiphänomen organisch-neurologischer Prozesse. Für die Soziologie ist der freie Wille jedoch niemals notwendiges handlungstheoretisches Axiom gewesen. Nicht ob Menschen bewusst handeln, sondern nach welchen – bewussten oder unbewussten – Regeln sie es tun, ist soziologisch relevant. Dabei hat die Hirnforschung selbst festgestellt, dass die ins erwachsene Gehirn einprogrammierten Reaktionstendenzen nicht genetisch determiniert sind, sondern in Interaktion mit der Umwelt „gelernt“ oder zumindest verstärkt oder gehemmt werden. Die nachgewiesene Plastizität des Gehirns bannt die Gefahr des neurologischen Determinismus. Auch inhaltlich stellen die neu entdeckten, neurophysiologisch verankerten Reaktionstendenzen die von Soziologen benutzte Handlungstheorie nicht in Frage. Die Soziologie braucht und benutzt lediglich ein stilisiertes Modell des Menschen: Der homo sociologicus ist ein höchst selektives Konstrukt. Das intellektuelle Schattenboxen mit der modernen Biologie fördert keinen Widerspruch zu fundamentalen soziologischen Axiomen zutage." [Autorenreferat]

Einladung zum Schattenboxen: die Soziologie und die moderne Biologie

Urheber*in: Mayntz, Renate

Rechte vorbehalten - Freier Zugang

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Weitere Titel
Invitation to shadow boxing: sociology and modern biology
Sprache
Deutsch
Umfang
Seite(n): 17
ISSN
1864-4325
Anmerkungen
Status: Veröffentlichungsversion

Erschienen in
MPIfG Discussion Paper (06/7)

Thema
Naturwissenschaften
Soziologie, Anthropologie
Wissenssoziologie
Naturwissenschaften, Technik(wissenschaften), angewandte Wissenschaften
Soziologe
Biologie
Handlungstheorie
Neurologie
neuronales Netz
Handlung
Handlungsfähigkeit
Handlungsspielraum
Handlungssystem
Sozialisation
Natur
biologische Faktoren
Biologismus
Umwelt
deskriptive Studie

Ereignis
Geistige Schöpfung
(wer)
Mayntz, Renate
Ereignis
Veröffentlichung
(wer)
Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung
(wo)
Deutschland, Köln
(wann)
2006

URN
urn:nbn:de:0168-ssoar-363439
Rechteinformation
GESIS - Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften. Bibliothek Köln
Letzte Aktualisierung
21.06.2024, 16:26 MESZ

Datenpartner

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Objekttyp

  • Arbeitspapier

Beteiligte

  • Mayntz, Renate
  • Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung

Entstanden

  • 2006

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