Archivale

Prozess Ryser-Melchinger: Urteilbrief

Regest: Wilhelm Wernher, Freiherr zu Zymbern, Herr zu Wildenstain, an Statt und im Namen des Grafen Rudolf zu Sulz, Hofrichters zu Rotwyl, bekennt öffentlich und tut kund allermänniglichem: Als er am Zinstag nach dem Fronleichnamstag (= 27. Mai) 1516 auf dem Hofe zu Rotwyl an der offnen freien Kaiserlichen Straß zu Gericht gesessen ist, stund vor ihm öffentlich der ehrsame, weise Niclaus Ul, Fiskal +) des Hofgerichts, und klagte von Amts wegen gegen Bürgermeister und Rat der Stadt Reutlingen, sie hätten Jörg Ryser von Reutlingen, der Ursula Melchinger und Berchtolt Melchinger zu Pfullingen vor dem Hofgericht fürgenommen (= verklagt) hat, von seinem Hofgerichtsprozess gedrängt, daß er mit handgegebner Treu davon zu stehen (= abzustehen) zusagen muußte, womit sie gegen des Hofgerichts Freiheit (= Privileg) gehandelt und den darin bestimmten (= festgesetzten) Penfall (= Strafe) verwirkt hätten. Der Fiskal hoffe, sie sollten ihm als Fiskal um solchen Penfall Abtrag tun (= ihn entschädigen), den Ryser in sein Recht restituieren und bei seinem Prozess bleiben lassen - alles mit Ablegung (= Ersatz) erlittner Kosten und Schäden, oder solle über sie gerichtet werden mit Acht und Anleite.
Dawider ließ der Angeklagten bevollmächtigter Prokurator und Anwalt, der wohlgelehrte Meister Peter Villembach, ein Unterschreiber des Hofgerichts, seinen angedingten und erlaubten Fürsprecher, in Exzeptionsweise (= Einrede) - mit Protestation (= Einspruch, Verwahrung) in Jurisdiktion (= Gerichtsbarkeit) und Gerichtszwang des Hofgerichts nicht mehr, als Recht sei, zu gehellen (= einzuwilligen) - antworten, weil offenbarlich im Recht und nach des heil. Reichs Reformation (= der Reichsreform - der des Kaisers Maximilian von 1495 ?) - vorgesehen sei, daß ein jeder in der ersten Instanz vor seinem ordentlichen Richter ersucht (= gerichtlich belangt) werden und bleiben solle, auch die Freiheit (= das Privileg) ++) der Antworter (= Angeklagten), die sie vor viel 100 Jahren von Kaisern und Königen und dem jetzigen Kaiser erlangt und bestätigt bekommen haben, klar vermöge (= besage), daß sie mit keinen fremden Gerichten beschwert werden sollen. Vielleicht könnte der Kläger +++) laut ihrer Freiheit vor ihnen Recht zu nehmen (= sich ihrer Gerichtsbarkeit zu unterstellen) sich beschwert erachten. Er erbiete sich namens der Antworter, mit ihm vor den Reichsstädten Ulm, Esslingen und Wyl (Weil) rechtlich (= gerichtlich, vor Gericht) fürzukommen. Damit ihre Unschuld laut der ausgegangenen Verkündung vermerkt (= festgestellt) werde, so habe der Handel folgende Gestalt. Das Fürstentum Wirtemberg und die Stadt Reutlingen hätten miteinander eine gelobte (= geschworene) Vereinung (= Vereinbarung) und Bündnis. Diese Vereinung sei mit aller Zierlichkeit (= Formalität) des Rechts nach gemeinem Recht der Reichsreform und Landesbrauch aufgerichtet, so daß eines jeden Teils Untertanen, Hintersaßen und Verwandte (= Zugehörige) des andern Teils Untertanen und Hintersaßen mit keinen ausländischen Gerichten fürnehmen (= belangen), sondern diese vor ihren ordentlichen Gerichten, unter denen sie gesessen (= ansässig) seien, bleiben lassen sollen. Das hätten sie beiderseits gelobt und den Jörg Ryser als ihren Bürger an sein Gelübd (= Versprechen) erinnert, damit gemeine Stadt Reutlingen nicht verdacht würde (= in den Verdacht käme), wider Brief, Siegel und getane Verpflicht (= eingegangene Verpflichtung) gehandelt zu haben. Auch wenn sie etwas mit ihm gehandelt (= verhandelt ?) hätten, des sie nicht gestünden (= was sie nicht zugeben), so hätten sie ihn doch zu keinem Versprechen, wie die ausgegangene Verkündung angebe, gedrängt. Weil nun Ryser als Reutlinger Bürger die Vereinbarung zu halten schuldig (= verpflichtet) und die in der Verkündung begriffenen (= enthaltenen) Pfullinger wirtembergisch seien, seien die Angeklagten der Hoffnung, sie sollten aus den genannten Ursachen laut ihrer Freiheit gewiesen ++++) oder sonst mit Bekehrung (= Ersatz) von Kosten und Schaden dieser Klag absolviert und ledig erkannt werden.
Dawider sagte der Fiskal Niclaus Ul, daß die angezogene (= zitierte) Vereinbarung zwischen dem Fürstentum Wirtemberg und der Stadt Reutlingen ihm keinen Schaden bringen könne. Denn kundlich (= offenkundig) sei, daß in allen Bündnissen und Vereinbarungen Kaiser und Könige und das heilige römische Reich vorbehalten und ausgenommen werden sollen und werden. Weil nun dieses Hofgericht ein Reichshof und Obergericht sei, wolle er hoffen, daß die Vereinbarung ihm, den Kläger, unnachteilig sein und die Antworter (= Beklagten) laut seiner Klag ihm Abtrag tun (= Schadenersatz leisten) sollen.
Meister Peter ließ reden (= erklären), er wolle seine vorher gegebene Antwort wiederholen und das Gleiche hoffen wie zuvor.
Damit setzten sie die Sache zu Recht (= brachten sie die Sache vor das Gericht). Darauf fragte der Hofrichter nach dem Urteil. Einhellig wurde geurteilt, ob der Prokurator der Antworter (= Beklagten) zu der fürgewendeten (= vorgebrachten) Klag Ja oder Nein sage, sei dem Widerteil (= Prozessgegner) seine Einrede dazu vorbehalten und geschehe fürder (= weiterhin), was Recht sei.
Als der Hofrichter heut nun abermal zu Gericht saß, stund vor ihm der Prokurator und Anwalt der Beklagten und ließ seinen Fürsprecher vortragen, nachdem ihm mit Urteil auferlegt sei, zu der vorgebrachten Klag Ja oder Nein zu sagen, erkläre er im Namen seiner Partei, diese gebe alle Punkte des Inhalts der ausgegangenen Verkündung keineswegs zu, sondern sie sei deren ganz unschuldig. Diese Verkündung (d.h. ihr Inhalt) könne nie mit Wahrheit beigebracht oder "des zu Recht ginge", ausfündig gemacht werden.
Niclaus Ul sagte, eine solche Vereinbarung befremde ihn. Aber er wolle seine vorher gegebene Red wiederholt haben. Er habe die Zuversicht, es werde laut seiner Petition erkannt werden.
Meister Peter auch wie vorher.
Damit setzten beide Parteien den Handel zu Recht (= brachten ... vor Gericht).
Darauf fragte der Hofrichter die Urteilsprecher des Hofgerichts nach Urteil und Recht. Diese haben zu Recht erkannt: Die Antworter mögen, wie sie mit beläuteter Glocke zusammenkommen, alle einen leiblichen Eid schwören zu Gott und den Heiligen, daß sie der Klag laut der an sie ausgegangenen Verkündung unschuldig seien. Dann sollen sie dem Kläger um seine Klag nicht schuldig, sondern davon absolviert und ledig erkannt sein. Täten sie aber solchen Eid nicht, so solle weiterhin geschehen, was Recht ist.

Dorsal-/Marginalvermerke: Auf der Rückseite: Taxa des Urteilbriefs 12 fl.

Archivaliensignatur
A 2 e (Urfehden u.a.) Nr. A 2 e (Urfehden u.a.) Nr. 8059
Umfang
Format: 38 x 72 cm
Formalbeschreibung
Beschreibstoff: Pg.
Sonstige Erschließungsangaben
Zeugen / Siegler / Unterschriften: angehängtes Insigel des Hofgerichts

Siegel (Erhaltung): vorhanden

Bemerkungen: +) Der Fiskal ist ein juristischer Beamter des Hofgerichts, vielleicht mit einem heutigen Staatsanwalt vergleichbar.
++) Privileg des Kaisers Sigmund vom 4. Juni 1434
+++) Gemeint ist der jetzt klagende Fiskal.
++++) wohl: an ein Gericht der genannten Reichsstädte überwiesen werden

Genetisches Stadium: Or.

Kontext
Reichsstädtische Urkunden und Akten (Bde. 19, 21-22, 26) >> Bd. 26 Rottweiler Hofgerichtsurteile
Bestand
A 2 e (Urfehden u.a.) Reichsstädtische Urkunden und Akten (Bde. 19, 21-22, 26)

Laufzeit
1516 Juli 8, Zinstag (= Dienstag) nach Sankt Ulrichs Tag

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Letzte Aktualisierung
07.03.2025, 14:23 MEZ

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Objekttyp

  • Archivale

Entstanden

  • 1516 Juli 8, Zinstag (= Dienstag) nach Sankt Ulrichs Tag

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