Tektonik
Oberrat (Regierungsrat)
Überlieferungsgeschichte
Der Oberrat entwickelte sich unmittelbar aus der herzoglichen Kanzlei, der einzigen Regierungsstelle des Territoriums bis in die ersten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts. Als die Rentkammer 1521 bzw. 1534 als selbständige Fachbehörde und der Hofrat für einige Zeit (1535-1550) als oberstes politisches Gremium abgetrennt worden waren, bezeichnete man das bei der alten Kanzlei verbliebene Ratskollegium als "Kanzleirat", seit 1549 immer häufiger als "Oberrat". Dieser Name, der von der Lage des Sitzungszimmers im Obergeschoss des Kanzleigebäudes herrührt, wurde 1710 durch "Regierungsrat" ersetzt. Im Jahre 1553 wurde der Kirchenrat als weitere selbständige Fachbehörde neben Oberrat und Rentkammer konstituiert.
Neben seiner eigenen Ressorttätigkeit war der Oberrat von der Aufhebung des Hofrates an (1550) bis zur Gründung des Geheimen Rats (1629) die oberste Regierungsbehörde. Als solche war er der Rentkammer und dem Kirchenrat übergeordnet und insbesondere Beraterstab des Herzogs in den "Reservatsachen", das heißt in den politischen Grundsatzfragen, der Gesetzgebung, den Personalsachen, den auswärtigen und militärischen Angelegenheiten. Besonders wichtige und geheime Fragen beriet ein engeres Gremium innerhalb des Oberrats, das sich aus dem Landhofmeister, dem Kanzler und zwei weiteren Räten, zuweilen auch "Geheime Räte" genannt, zusammensetzte.
Die eigentliche Zuständigkeit des Oberrats erstreckte sich auf die Hoheits-, Innen-, Justiz- und Polizeiverwaltung, auf die Durchführung auswärtiger Aufträge und Gesandtschaften sowie die Aufsicht über die weltlichen Bezirksämter. Am meisten in Anspruch genommen war der Oberrat als höchste Gerichtsbehörde des Landes. Er war erste Gerichtsinstanz für alle Fälle, bei denen der Herzog, Regierungsbeamte, exemte Personen, Gemeinden oder Körperschaften Kläger oder Beklagte waren, sollte jedoch erst angerufen werden, wenn gütliche Einigungsversuche der zuständigen Amtleute gescheitert waren. Der Oberrat überwachte alle peinlichen Prozesse der Stadtgerichte (A 209), war in Zivilsachen Berufsinstanz vom Hofgericht Tübingen (A 230 a), war oberste Lehenbehörde und Lehengericht (A 160) sowie Ehegericht (A 238 a). Weiter wurde der Oberrat häufig als Schiedsgericht in Streitigkeiten fremder Territorien angerufen und mit Untersuchungen beauftragt (A 232).
Der Oberrat war eine Kollegialbehörde, die ihre Entscheidungen durch Mehrheitsbeschlüsse traf. Die Sitzungen leitete der Landhofmeister, der höchste Landesbeamte, oder stellvertretend für ihn der Kanzler. Dem Gremium gehörten je etwa zur Hälfte adlige Herren und Juristen als Räte an. Die Bearbeitung einzelner Fälle wurde auf die Räte verteilt, wobei sich gewisse Referate herausbildeten, die Beschlüsse aber wurden gemeinsam gefasst. Die Ausfertigung des Schriftwechsels und die Entwürfe einfacherer Schriftsätze besorgten Sekretäre und Schreiber.
Inhalt und Bewertung
Die Geschichte der Oberratsregistratur, der umfänglichsten nach der des Kirchenrats, ist noch nicht untersucht. Die wachsende Registratur wurde zunächst von den Kanzleisekretären, seit 1567 von einem eigens dazu bestellten Registrator verwaltet. 1570-75 versah Andreas Rüttel d.J., der spätere Hofregistrator, dieses Amt. 1612 entwarf der Hofregistrator (Archivar) Christoph Bidembach einen neuen Registraturplan für die bereits 1000 Schubladen füllenden Akten nach dem Vorbild des fürstlichen Archivs. Er schuf 5 Hauptabteilungen (Titel), die in Membra untergliedert waren:
1) Geistlicher Stand (Membra für einzelne auswärtige Herrschaften)
2) Weltlicher Stand (Membra für einzelne auswärtige Herrschaften)
3) Städte und Ämter des Landes (Membra für einzelne Ämter)
4) Forst-, Jagd-, Wildbret- und freie Pirschsachen
5) Specialia: etwa 50 Membra nach alphabetisch gereihten Sachbetreffen - der erste bekannte Fall des alphabetischen Betreffsystems, das ein Jahrhundert später ein vorherrschendes Ordnungsprinzip wurde.
Diese Gliederung liegt nach der heutigen Einteilung der Registratur zugrunde, wenn auch inzwischen zahlreiche Änderungen vorgenommen wurden. Vor allem verteilte man später zahlreiche Membra der Spezialakten (Titel 5) auf die Ämterakten (Titel 3). Die Anordnung der heute vorhandenen 28 Teilbestände geht auf K. O. Müller zurück, der in pragmatischer Weise den1937 zufällig vorliegenden Verzeichnissen jeweils eigene Bestandssignaturen gab. Fasst man diese Teilbestände in Gruppen zusammen, erhält man Einheiten, die den ehemaligen Titeln etwa entsprechen: 1) Die Ämterakten (ehemals 3. Titel) enthalten den größten Teil des Materials über die Innen- und Justizverwaltung. Sie waren früher zweigeteilt in weltliche Ämter und Klosterverwaltungen, bilden aber heute eine durchgehende Reihe. Bis ins 18. Jahrhundert hinein waren die Ämterakten nur topographisch eingeteilt mit chronologischer Untergliederung der Akten (A 206, 209, 210). Um 1725-1755 wurden die jüngeren Ämterakten auf einen neuen Aktenplan umgestellt: Man teilte sie in 268 Rubriken ein, die ohne systematischen Aufbau naiv nach dem Stichwortalphabet hintereinandergereiht und deshalb ganz unübersichtlich sind. Die Ämtertopographie bestimmt erst die Untergliederung dieser Rubriken. Vorgänge, die mehrere oder alle Ämter betrafen, kamen zu den ¿Generalakten¿ (A 211-214).
2) Das Schriftgut über Beziehungen zu auswärtigen Partnern und deren Angelegenheiten ist fast ebenso umfangreich wie die Ämterakten (ehemals 1. und 2. Titel). Es ist nach Partnergruppen gegliedert: Kaiser, Könige, Fürsten, Bischöfe, Grafen, Freiherren, Ritterschaft, Klöster, Städte, doch wurden, wahrscheinlich im 19. Jahrhundert, einige Gruppen zusammengefasst und dabei die logische Reihung gestört (A 219-226, ungerechtfertigte Zusammenfassung z.B. bei ¿Fürsten und Klöster¿, A 219).
3) Einige Teilbestände umfassen bestimmte Sachbereiche wie zum Beispiel ¿Forst, Wald und Jagd¿ oder ¿Handwerker¿ (ehemals 4. und 5. Titel, jetzt A 227-234, 236, 237 a, 238).
4) Eine kleinere Gruppe besteht aus gleichartigen Schriftgutreihen, die sich bei der Oberratskanzlei bildeten und im Serienprinzip angeordnet sind (Protokolle, Reskripte u.a., A 235, 237, 238). Zahlreiche ausgewählte Schriftstücke, darunter die Pergamenturkunden und die wichtigsten Akten, wurden bereits in herzoglicher Zeit dem fürstlichen Archiv übergeben und in dessen Membra eingereiht. Der Unterschied beider Schriftgutstellen ist, dass in das Archiv nur Auslesestücke, und zwar von verschiedenen Dienststellen, in die Oberratsregistratur aber die kompletten Aktenvorgänge nur von der eigenen Behörde gelangten.
Die Registratur des Oberrats kam 1806 in das ¿Hauptdepot der älteren Akten¿ und bildete dann die Hauptmasse des 1818 geschaffenen ¿Archivs des Innern¿, das unter Aufsicht des Innenministeriums selbständig verwaltet wurde. Dieses Ministerialarchiv wurde 1866 von Stuttgart nach Ludwigsburg verlagert und 1921 der Verwaltung der Archivdirektion unterstellt und mit dem damaligen Staatsfilialarchiv Ludwigsburg vereinigt. Um 1820 bis 1830 waren - dem alten Auslesegrundsatz gemäß - einige Aktenteile besonderen Inhalts, vor allem aus der Zeit, in der der Oberrat oberste Regierungsbehörde war, ausgesondert und dem Staatsarchiv abgegeben worden. Sie bilden heute die Bestände ¿Regierungsakten¿ (A 1, 2, 71; vorwiegend auswärtige Korrespondenzen) und Teile der Bestände Kanzlei Neuenstadt (A 17 a), Kriegsakten II (A 29) und Reichshofrat (A 38). Einzelstücke wurden auf zahlreiche andere Bestände verteilt. Die württembergische Reichskammergerichtsregistratur (A 41), ursprünglich ebenfalls eine Abteilung der Oberratsregistratur, wurde nach 1806 davon getrennt und kam auf anderem Weg ins Staatsarchiv.
Die heute verfügbaren Repertorien stammen größtenteils noch von den Beamten des ¿Archivs des Innern¿ (1818-1921).
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