Brief | Korrespondenz
Brief von Raoul Hausmann an Hannah Höch. Berlin
Motiv Inhalt: „19.6.18. 5 Uhr. Liebste - ich bin todtraurig. Aber darf ich dich bitten, noch dies genau zu lesen. Ich sagte Dir im Mai, ein Mensch wie ich litte nicht mehr wie Dostoiewski an tatsächlicher, sondern an intellektueller Epilepsie. Und dazu möchte ich das abschreiben, was Stadelmann[1] schreibt - ich las es in dem Augenblick, als Dein Rohrpostbrief kam. Oder nein, ich klebe die Stelle ein - denn ich bin so erregt, daß ich kaum schreiben kann. Zwar handelt die Stelle von den Erscheinungen bei Kindern - aber sie trifft die Anfangsstadien der Epilepsie und ist ganz auf mich anzuwenden. »Es gibt moralische Minderwertigkeiten, die die epileptische Veranlagung verraten und die keinem anderem Typus der Veranlagung zugeschrieben werden können, als dem epileptischen. Hysterisch veranlagte Kinder sind, wenn sie moralisch minderwertige Handlungen begehen, durch die Art dieser Minderwertigkeit verschieden von den epileptisch Veranlagten. Während dort eine Brutalität vorherrscht, erscheint die moralisch minderwertige Handlung des hysterischen Kindes mehr durch Phantastereien angeregt. Ein grausamer Ernst spricht aus dem moralisch minderen Benehmen der epileptischen Kinder, indes das moralisch minderwertige hysterische Kind einem nicht ernst zu nehmenden Komödianten gleicht. Differentialdiagnostisch sind diese Erscheinungen vorteilhaft zu verwerten. Von der Gefühlsintensität und der Art des Gefühlstones hängt die Vorstellungs- und Gedankenassoziation ab. Durch zu starke Gefühlsintensität erleidet das Ich als Komplex eine Einbuße. Es kommt zu geistigen Dissoziationserscheinungen.«// Ich las Dir am 13. Mai die Stelle aus Mereschkowski[2] vor über die Epilepsie Dostoiewskis, und daß er dies die Krankheit zum Leben nennt - ich bin krank, epileptisch - sieh meinen Schädel an - die geistigsten Menschen sind Epileptiker. Begreife doch, was ich Dir heute sagte: weißt Du denn, was in mir erlöst sein will? - Begreif es doch! Als ich Dir das Manuskript und den gestrigen Brief durchsteckte - wußte ich was mit mir war - und darum konnte ich Dir heute sagen: ich schwöre Dir, daß 6 Wochen nichts passieren soll - ich habe Dich heute Früh furchtbar erschreckt - und begreife überhaupt, daß Du Dich nach einem Zusammenbruch verschließt - deshalb:// »Das, was ein Mensch liebt, hochschätzt, wird durch die Angst Objekt der Zwangsvorstellung. Die Angst vor etwas läßt immer das Negativ einer Sache stark hervortreten. Der Mutige kennt nur das Positive seines Objektes, der Ängstliche betont mehr die negative Seite. Die Angst löst eine gegenteilige Vorstellung aus. Manche Menschen haben die angeborene Neigung, den Wert der Objekte in einen gegenteiligen zu verkehren. Solche Charaktere sind es, die dem Zwang zum Opfer fallen können. Ihnen zerrt der Zwang das Höchste herunter und läßt sie nur die unschöne Seite der Sache erblicken. Woher kommt es, daß gerade das am meisten Verehrte, Geliebte und Geachtete zu einer Zwangsvorstellung herabstürzen muß? Je höher etwas steht, umso tiefer kann es fallen; dieser allgemein bekannte Satz läßt sich auch hier anwenden. Der anhaltend einer Sache zuerkannte hohe Wert verkehrt sich durch Müdigkeit ins Gegenteil.« Und damit haben wir doch die Sicherheiten in Händen, uns endlich, endlich zu verstehen, gegenseitig zu verstehen - und nicht mehr so gräßlich zu quälen.Du mußt Angst vor mir haben und ich beschimpfe und schlage Dich unter Zwang - weil ich Dich rasend liebe! Da hilf mir doch mit Zutrauen - wie ich immer bat und fühlte: habe keine Angst vor mir - dann geschieht nichts!! Ich möchte brüllen vor Schmerz. Ich flehe Dich an - sei heute um 12 Uhr vor Deiner Haustüre - Komm! oder ich erwarte Dich morgen! Aber hilf doch uns beiden! Oh hilf mir doch - mir zerreißt das Herz - nimm es doch! Nimm doch alles - ich liebe Dich! Ich erwarte Dich morgen um 12 Uhr oder morgen um 6 Uhr - aber fahre nicht weg!! R. Am Montag vor 14 Tagen schriebst Du: »Du fühltest keine Spur von meiner Herzlichkeit. Du warst Gott weiß wo, aber nicht bei mir. Ich schreibe das verzweifelt.« Das schien Dir wahrhaftig nur so, trotzdem hast Du dies wahrgenommen und bist darüber verzweifelt. Ich bin auch oft verzweifelt. Aber ich weiß jetzt, woher die Täuschungen über das eigne Erleben und das Mißverstehen des Anderen herrühren: aus der unsichtbaren Fälschung unseres eignen Erlebens, dem Zwang zur Anpassung, der Bildung einer Leitlinie aus den Kindheitscomplexen heraus, die jeder durch die »Erfahrung« nicht auscompensiert, (berichtigt) sondern die er subjectiv-individuell zu Gunsten dieser Leitlinie und auf Grund dieser Leitlinie fälscht und stärkt. Und darum trifft jeder Vorwurf, den ich Dir mache, meist in seiner umgekehrten Anwendung, auch auf mich zu, also Deine Hysterie entspricht meiner Neurose und umgekehrt. Aber diese Falschwertung ist nicht unsere Schuld. Das daraus entstehende Elend und die Hemmungen, Agressionsumkehrungen, der Selbstbetrug sind die äußeren Differenzierungen des durch die heutige Familie »tragisch« gemachten Conflikts des Eignen und Fremden. Und unsere ganze Erkenntnis sollte dahingehen: daß wir uns selbst weniger naiv glauben, erkennen, daß einer Hemmung des einen eine Agressionsumkehrung des Ändern entspricht oder parallel geht, so daß scheinbar bei gleichzeitiger »Unschuld« Beider der Zusammenbruch erfolgt - dessen »Schuld« der eine oder andre fälschlich übernimmt. Was in der Gemeinsamkeit zum Zusammenbruch führt, das führte im Lauf der verkehrten Fremd-Autorität des Mannes, des Königs, als Folge der Minderwertungstendenzen zum Weltkrieg - nichts anderes. So wie die Völker alle an diesem Krieg »unschuldig« sind - so sind auch die sich heute Gegenüberstehenden, Erlebenden in Beziehungen am Zusammenbruch »unschuldig« - da sie weder bei ihrem eigenen Erleben, noch, von da aus, zu wirklichen Sicherheiten in den Beziehungen gelangt sind. Der ganze Kampf um, oder gegen den Anderen löst sich auf in Gemeinschaftsbeziehungen, wenn uns die Erkenntnis der Falschwertung aus der unbewußten Leitlinie als fortwährende Balance des, in jedem Augenblick als Selbstsicherung oder als unbekümmerte Selbstauflösung sich erst gestaltenden, beweglichen Gesamt-Erlebens gelingt, ohne Unterschiebung der eignen Sicherungstendenzen in das Erleben des Anderen. Das muß aber gelingen - wenn man erst einmal erkannt hat, daß es garnichts »Vereinzeltes« geben kann - sondern daß Liebe und Haß, Aufnahme oder Mißtrauen nur Spiegelungen des Eignen im Fremden sind - gewissermaßen optische Täuschungen über das eigne Wollen (ethische Gebrechen.) Und wenn Du dann schreibst: »Gebt Liebe denen, denen des Vaters Name nie klang, gebt Liebe dem Freunde, wenn es ihm [not] tut« - so ist dies eine Täuschung über die Realität dieses Wollens - weil Du zugleich meine Bösartigkeit als gegeben und bestehend (wenigstens in diesem Fall, nach Deinem Brief) voraussetzt. Dies ist aber nicht: geben, sondern ebenso eine Täuschung, wie ich mich meinerseits täusche, daß Du mir nicht entgegenkommen willst - weil unser gleichzeitiges Erleben aus der Beeinflussung eines Jeden durch die Kindheitscomplexe divergiert - wir haben also kein Recht, uns das gegenseitige Nicht-Helfen vorzuwerfen - weil wir nicht: dem ändern gegenüber nicht abreagieren können - sondern uns selbst gegenüber nicht! - Und darum müssen wir immer bedenken: daß wir uns noch, (wie jeder andere Mensch) so gegenüberstehen, wie wir der Familienautorität gegenüberstanden: Du hast Deinem Vater gegenüber geschwiegen und er glaubte an Trotz bei Dir, wenn Du wußtest, daß Dir Unrecht geschehen war - ich habe mich mit meinem Vater geschlagen und geschimpft und ihn als Schwindler empfunden, weil er meine Schwester bevorzugte. Daraus ergibt sich für Dich ein überempfindliches Rechtsgefühl (Idee der Vergewaltigung -) bei mir ein tiefes Mißtrauen in die Wahrheit der Beweggründe des Ändern. Und so verletzen wir uns heute noch fortwährend - weil unsere Väter gedankenlose Egoisten waren. Und darum sehe ich in Deinem Dich-verschließen und in meiner Gewaltsamkeit - Hilflosigkeiten - die in Wahrheit unser Erleben nicht berühren. Daher das Unerklärliche, daß wir uns lieben - aber nicht miteinander leben können. Es muß uns aber gelingen, nicht erst hinterher in Zukunft einzusehen, sondern in jedem Augenblick, daß jeder von uns Beiden: lügt, wenn er dem Ändern aus den eignen, meist selbst nicht erkannten Tendenzen heraus ein Versagen zuschiebt - das nur die eigne Schwäche und Gebundenheit deckt! R Die umfassende Durchschauung aller Confliktmomente über den Kampf hinaus ist aus der Beziehung heraus Verantwortung - und läßt Wege finden; hier mußt Du mir folgen! Einzige Auflösungsmöglichkeit der »Neurose« - nicht medicinisch (also als Krankheit zum Tode) sondern menschlich! Adler ist eine Täuschung! Nur Material! 20.6.18. Ich habe Deinen Brief gelesen. Und ich glaube, daß das nicht recht ist, wie Du meinst, dieses Fortgehen - das war früher möglich. Gewiß ist es sehr schwer; zu gehen - aber wohl leichter als bleiben. Und wohl doch aus einer Müdigkeit - die das Verehrte und Geliebte in etwas Negatives verkehrt - zu verstehen. Und wenn im Buch: Sprung aus der Welt[3] alle egoistisch sein müssen - so ist das doch hier dann das gleiche - Jeder ginge dann wo anders hin, allein! Und der Wunsch »wieder mit Pflanzen und Sonne ohne Verdrängung«[4] zu leben, bliebe Wunsch - oder Verdrängung. Denn nie hat bis heute ein Mensch ohne Verdrängung gelebt: die Liebe zu den Pflanzen und Bergen muß die Liebe zum Kind und zur Gemeinschaft mit Menschen verdrängen - oder ist ihre Verdrängung. Das ist gewiß. Also bliebe nur Liebe zum Kind und damit doch ein Ziel, das nicht nur im Sprung aus der Welt noch nicht erreicht ist: Gemeinschaft. Ich glaube, ohne Anschuldigung, das alles klar zu sehen - es kann nicht anders sein. 20.6.18.“ [1] Heinrich Stadelmann. Hausmann bezieht sich im folgenden Zitat auf sein Werk: Die Bedeutung des Kindheitserlebnisses für die Ausgestaltung der Lebensführung. Dresden, 1917. [2] D. S. Mereschkowski. Hausmann bezieht sich hier auf das Werk Tolstoi und Dostojewski als Menschen und Künstler. Leipzig, 1903. [3] Franz Jung: Der Sprung aus der Welt. Berlin, 1918. [4] Vgl. Briefentwurf Hannah Höch an Raoul Hausmann vom 17.6.1918, BG-HHE I 10.48.
Anzahl Teile/Umfang: 6 Blatt
- Material/Technik
-
Papier, handgeschrieben
- Standort
-
Berlinische Galerie
- Inventarnummer
-
BG-HHC K 733/79
- Weitere Nummer(n)
-
BG-HHE I 10.52
- Würdigung
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Erworben aus Mitteln der Senatsverwaltung für Kulturelle Angelegenheiten, Berlin
- Verwandtes Objekt und Literatur
- Bezug (was)
-
Brief
Korrespondenz
2.1.1 an den Nachlasser (pK)
Deutschland / Berlin
Nachlass-Hannah-Höch
- Ereignis
-
Herstellung
- (wann)
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19./20.06.1918
- Letzte Aktualisierung
-
26.09.2024, 12:30 MESZ
Datenpartner
Berlinische Galerie - Museum für Moderne Kunst. Bei Fragen zum Objekt wenden Sie sich bitte an den Datenpartner.
Objekttyp
- Korrespondenz; Brief
Beteiligte
Entstanden
- 19./20.06.1918