Bestand

Sondergericht für den Oberlandesgerichtsbezirk Stuttgart (Bestand)

Inhalt und Bewertung
Die Akten des Sondergerichts Stuttgart wurden zum größten Teil beim Brand des Gerichtsgebäudes 1944 vernichtet. Bei den in diesem Bestand vorhandenen Akten handelt es sich überwiegend um Wiedergutmachungssachen der Staatsanwaltschaft Stuttgart, also Verfahren zur Aufhebung von nationalsozialistischen Unrechtsurteilen. Aufgrund von Wiedergutmachungsanträgen von Verurteilten oder ihrer Nachkommen nach 1945 wurde versucht, die vernichteten Akten des Sondergerichts wenigstens in ihren Hauptteilen zu rekonstruieren. Dabei wurde vor allem auf Unterlagen der Haftanstalten, insbesondere Gefangenenpersonalakten zurückgegriffen, die häufig Urteilsabschriften und vor allem Nachweise der Strafvollstreckung enthalten. Nur zu einem ganz geringen Teil bestehen die Akten aus Originalunterlagen des Sondergerichts, die sich wohl zufällig erhalten haben. Der Bestand enthält auch (Ersatz-) Vollstreckungsakten und Gnadenakten, die überwiegend erst in der Nachkriegszeit zur Überprüfung der Vollstreckung bzw. zur Milderung oder zum Erlass von verhängten Strafen aus weiterhin gültigen Urteilen der NS-Zeit angelegt wurden.
Ferner enhält der Bestand Verfahrensakten der Staatsanwalt Stuttgart zu Strafprozessen gegen Ausländer aus dem Zeitraum 1942-1945 (Delikte: Volksschädlingsverbrechen, Diebstahl, Sittlichkeitsverbrechen u.a.) sowie zur "Ostzonenvollstreckung", d.h. Übernahme von Strafverfahren bzw. Strafvollstreckung von Urteilen ostzonaler Gerichte, nachdem die Betroffenen in das Bundesgebiet übergewechselt waren, aus dem Zeitraum 1948-1960.

Zur Behördengeschichte: Die neben dem Volksgerichtshof zahlreich vorhanden gewesenen Sondergerichte wurden bereits 1933 eingerichtet, und zwar noch aufgrund einer Verordnung des Reichspräsidenten von 1931. Auf der Grundlage von Kapitel II des Sechsten Teils der Dritten Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zur Bekämpfung politischer Ausschreitungen vom 6. Oktober 1931 (Reichsgesetzblatt II, S.537, 565) wurde mit Verordnung der Reichsregierung vom 21. März 1933 festgelegt, daß für jeden Oberlandesgerichtsbezirk ein Sondergericht gebildet wird (Reichsgesetzblatt I, S.136ff.). Ihre Zuständigkeit wurde folgendermaßen festgelegt (§ 2) : "Die Sondergerichte sind zuständig für die in der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 (Reichsgesetzbl. I S. 83) und der Verordnung zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung vom 21. März 1933 (Reichsgesetzbl. I S. 135) bezeichneten Verbrechen und Vergehen, soweit nicht die Zuständigkeit des Reichsgerichts oder der Oberlandesgerichte begründet ist." Insbesondere sollten von den Sondergerichten geahndet werden: Handlungen gegen die "öffentliche Sicherheit und Ordnung"; Angriffe auf das Leben des Reichspräsidenten, des Reichskanzlers sowie anderer Mitglieder oder Kommissare der Reichs oder Landesregierung; Brandstiftung; Beschädigung von Eisenbahnanlagen; schwerer Aufruhr und Landfriedensbruch; Zuwiderhandlungen gegen behördliche Anordnungen; Aufstellung und Verbreitung einer unwahren oder entstellenden Behauptung, "die geeignet ist, das Wohl des Reichs oder eines Landes oder das Ansehen der Reichsregierung oder einer Landesregierung oder der hinter diesen Regierungen stehenden Parteien oder Verbände schwer zu schädigen." Vor den Sondergerichten wurde auch dann verhandelt, wenn ein zu ihrer Zuständigkeit gehörendes Verbrechen oder Vergehen zugleich den Tatbestand einer anderen strafbaren Handlung erfüllte. Die mit drei Berufsrichtern (einem Vorsitzenden und zwei Beisitzern) besetzten Gerichte sollten eine politisch "energisch arbeitende Instanz" sein und somit jegliche politische Opposition mit scheinbar legalen strafrechtlichen Mitteln unterdrücken. Ihre Kompetenzen nahmen ständig zu. Im Februar 1936 wurde verfügt, daß alle "im Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz von Parteiuniformen" vom 20. Dez. 1934 bezeichneten Verbrechen und Vergehen ebenfalls von den Sondergerichten abzuurteilen seien (Reichsgesetzblatt I, S. 97). Im November 1938 wurde ihr Zuständigkeitsbereich dahingehend erweitert, daß auch bei Verbrechen, die in die Zuständigkeit des Schwurgerichts oder eines niederen Gerichts fielen, vor dem Sondergericht Anklage erhoben werden konnte, wenn durch die Schwere oder Verwerflichkeit der Tat die sofortige Aburteilung durch das Sondergericht geboten schien. Auf eine Beweiserhebung konnte das Sondergericht verzichten, wenn es die Überzeugung gewonnen hatte, daß die Beweiserhebung für die Aufklärung der Sache nicht erforderlich sei. Rechtsmittel konnten gegen die Entscheidung des Sondergerichts nicht eingelegt werden. Der Sprengel des Sondergerichts Stuttgart umfaßte die Landgerichtsbezirke Stuttgart, Ellwangen, Heilbronn, Ravensburg, Rottweil, Tübingen und Ulm sowie den Bezirk des preußischen Landgerichts Hechingen. Die Ausschaltung der Gewaltherrschaft Hitlers durch die Alliierten Mächte brachte auch den Zusammenbruch der nationalsozialistischen Gerichtsbarkeit. "Alle deutschen Gerichte werden bis auf weiteres geschlossen" heißt es in der Proklamation Nr. 1, die General Eisenhower als Oberkommandierender der alliierten Streitkräfte erließ (Amtsbl. der amerik. Militärregierung S. 1); und die Proklamation Nr. 3 legte als "Grundsätze für die Umgestaltung der Rechtspflege" ausdrücklich fest: "Der Volksgerichtshof, die Gerichte der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei und die Sondergerichte sind aufgehoben. Ihre Wiederherstellung ist verboten" (Amtsbl. des Kontrollrats Nr. 1, S. 22).

Zum Bestand: Die im vorliegenden Repertorium erfaßten Akten des Sondergerichts Stuttgart wurden im November 1978 von der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Stuttgart an das Staatsarchiv abgegeben. Die noch vorhandenen Akten stellen allerdings nur einen Bruchteil der ursprünglichen Überlieferung dar. Zum größten Teil sind die Akten des Sondergerichts beim Brand des Gerichtsgebäudes 1944 vernichtet worden. Die hier vorliegenden "Akten des Sondergerichts Stuttgart" bestehen daher nur zu einem ganz geringen Teil aus Originalunterlagen, die sich wohl zufällig erhalten haben. Bei den meisten Akten handelt es sich um sogenannte "Ersatzakten": es wurde versucht - in der Regel aufgrund von Wiedergutmachungsanträgen der Betroffenen oder ihrer Nachkommen nach 1945 - die ursprünglichen Akten wenigstens in ihren Hauptteilen zu rekonstruieren. Dabei wurde vor allem auf Unterlagen der Haftanstalten, insbesondere Gefangenenpersonalakten zurückgegriffen, die häufig Urteilsabschriften und vor allem Nachweise der Strafvollstreckung enthalten. Endete ein Verfahren vor dem Sondergericht mit dem Todesurteil, so ist dies vermerkt, ebenso, wenn ein Todesdatum festgestellt werden konnte. Das neben dem Aktenzeichen des Sondergerichts genannte Aktenzeichen bezieht sich auf das Wiedergutmachungsverfahren. Zusammen mit der Rest- und Ersatzüberlieferung des Sondergerichts wurden auch Akten zur sogenannten Ostzonenvollstreckung sowie Ausländerverfahren von der Staatsanwaltschaft abgegeben. Die Akten wurden beim Bestand belassen, da sie - zumindest was die Ausländerverfahren betrifft - ebenfalls die Rechtspraxis des Dritten Reiches dokumentieren. Die vorliegenden Strafprozesse gegen Ausländer sind allerdings nur zum Teil vor dem Sondergericht verhandelt worden, sondern überwiegend vor dem Landgericht Stuttgart. Bei den Akten zur "Ostzonenvollstreckung" handelt es sich um die Übernahme von Strafverfahren bzw. um die Strafvollstreckung von Urteilen ostzonaler Gerichte, nachdem die Betroffenen in das Bundesgebiet übergewechselt waren. Prozeßregister zu Verfahren vor Sonder- und Landgericht Stuttgart befinden sich in Bestand Staatsanwaltschaft Stuttgart E 323 II. Der vorliegende Bestand wurde im August 1989 von Anja Warsow unter Anleitung der Unterzeichnenden, die auch die Abschlußarbeiten besorgte, verzeichnet und verpackt. Die Reinschrift fertigte Frau Hildegard Aufderklamm. Die Akten sind nach ihrer Vorsignatur, das heißt nach dem Aktenzeichen des Sondergerichts (bestehend aus lfd. Nummer und Prozeßjahr) geordnet. Als gesonderte Gruppen belassen wurden die Akten zur Ostzonenvollstreckung und die Ausländerverfahren. Die Akten unterliegen noch zum Teil personenschutzrechtlichen Sperrfristen! Ludwigsburg, im Februar 1990 Dr. Nicole Bickhoff-Böttcher

Literatur: P. Sauer, Württemberg in der Zeit des Nationalsozialismus, Ulm 1975, S. 65 f. Im Namen des Deutschen Volkes. Justiz und Nationalsozialismus, Katalog zur Ausstellung des Bundesministers der Justiz, Köln 1989 K. Bästlein, Zum Erkenntniswert der Justizakten aus der NS-Zeit. Erfahrungen in der konkreten Forschung/ in: Datenschutz und Forschungsfreiheit, bearb. v. J. Weber, München 1986, S. 85 - 102.

Ergänzender Hinweis zu Inhalt des Bestands: Bei den in diesem Bestand verzeichneten Verfahrensakten handelt es sich überwiegend um Wiedergutmachungssachen (Aktenzeichen Wgm. L) der Staatsanwaltschaft Stuttgart, also Verfahren zur Aufhebung von nationalsozialistischen Unrechtsurteilen. Weitere Wiedergutmachungssachen befinden sich in den Beständen EL 317 X (dort auch ausführlichere inhaltliche Beschreibung) und E 323 II. Zudem enthält dieser Bestand auch (Ersatz-) Vollstreckungsakten und Gnadenakten, die überwiegend erst in der Nachkriegszeit zur Überprüfung der Vollstreckung bzw. zur Milderung oder zum Erlass von verhängten Strafen aus weiterhin gültigen Urteilen der NS-Zeit angelegt wurden. Die Akten beziehen sich zwar zum größten Teil, aber nicht ausschließlich auf Urteile des Sondergerichts Stuttgart, sondern vereinzelt auch auf Urteile anderer Gerichte. Ulrike Leuchtweis, Oktober 2010

Reference number of holding
Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Staatsarchiv Ludwigsburg, E 311
Extent
955 Büschel (4,5 lfd. m)

Context
Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Staatsarchiv Ludwigsburg (Archivtektonik) >> Ober- und Mittelbehörden 1806-um 1945 >> Geschäftsbereich Justizministerium >> Obertribunal/ Oberlandesgericht

Date of creation of holding
1933-1976

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Rights
Last update
18.04.2024, 10:40 AM CEST

Object type

  • Bestand

Time of origin

  • 1933-1976

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