Der norwegische Missionar Hans Egede erreicht Grönland im Jahr 1721. Sein Ziel ist es, die Nordmänner, auch als Wikinger bezeichnet, vom Katholizismus zum Lutheranismus zu bekehren. Doch statt blühender Landschaften und potenzieller neuer Gläubiger findet er nur Ruinen. Die zwei Siedlungen, die circa 700 Jahre zuvor gegründet worden waren, sind unbewohnt und die einzigen Menschen, die sich noch auf der Insel befinden, sind Inuit.
Was war geschehen? Die Theorien, warum die Wikinger aus Grönland verschwanden, sind zahlreich: Sie reichen von Seuchen zu Versorgungsengpässen, von Heimweh bis zu klimatischen Veränderungen. Lange Zeit wurde angenommen, dass das, was heute als „Kleine Eiszeit“ (ca. 1300 – 1850) in Europa bezeichnet wird, maßgeblich am Verschwinden der Wikinger beteiligt war.
Neueste Forschungen, die im Dezember vergangenen Jahres in dem Wissenschaftsmagazin „Science Advances“ veröffentlicht wurden, haben allerdings ergeben, dass die Kleine Eiszeit kein globales Phänomen und Grönland von dieser Klimaveränderung gar nicht betroffen war. Als die Wikinger unter Erik dem Roten 985 n. Chr. nach Grönland kamen, war es kalt und als sie es 400 Jahre später wieder verließen, war es immer noch genauso kalt – aber nicht kälter.
Das mysteriöse Verschwinden der Wikinger aus Grönland
Der Trick mit den Moränen
Die Forschungsergebnisse zu dem wahrscheinlich nicht klimatisch bedingten Verschwinden der Wikinger stammen von einer Gruppe Wissenschaftler des Lamont-Doherty Earth Observatory der Columbia Universität in New York. Sie untersuchten nördlich der verlassenen Siedlungen Moränen: Die Schuttberge, die zurückbleiben, wenn Gletscher sich bei Erwärmung zurückziehen. Der Trick dabei, sagt Nicolás Young, Geologe und Paläoklimatologe, dem Smithsonian Magazine, sei herauszufinden, zu welchem Zeitpunkt die Moränen entstanden sind.
Sobald der Gletscher sich zurückziehe, werde der Schutt dem Sonnenlicht ebenso wie kosmischer Strahlung ausgesetzt, erklärt Young weiter. Die Partikel der kosmischen Strahlung bombardieren den Schutt, so dass auf der Oberfläche Isotope entstehen, unter anderen Beryllium-10. Die Menge dieses Isotops gibt dann darüber Aufschluss, wie lange die Steine schon der Atmosphäre ausgesetzt sind.
Die Untersuchungen der grönländischen Moränen überraschen: Die Wissenschaftler datieren sie auf den Anfang der Mittelalterlichen Warmzeit (ca. 1000 – 1300), direkt vor der Kleinen Eiszeit. Hätte die Kleine Eiszeit jedoch die gleichen Auswirkungen in Grönland wie in Europa gehabt, müssten die Moränen deutlich jünger sein, da die Gletscher sich erst später – und zwar nach Ende der Kleinen Eiszeit – zurückgezogen hätten. Die Schlussfolgerung, dass die Wikinger Grönland aus klimatischen Gründen verlassen haben, scheint demzufolge überkommen.
Zurück zum Anfang
Etwa 5.000 Wikinger lebten in Grönland, nachdem Erik der Rote es als erster kolonisiert und benannt hatte – es heißt, er hätte den Namen „Grünland“ aus Propagandazwecken verwendet, damit weitere isländische Wikinger ihm folgten. Die Neuankömmlinge brachten Schafe und Rinder mit und gründeten Bauernhöfe. 400 Gebäude aus Stein wurden gebaut, inklusive Kirchen, einem Kloster und einer Kathedrale. Über Generationen hinweg handelten die Grönländer mit Eisbärhäuten, Walross- und Narwalzähnen und waren somit die am westlichsten lebenden Europäer, bevor Kolumbus Amerika entdeckte.
Warum also verschwanden die Wikinger aus Grönland, wenn das Klima nur eine untergeordnete Rolle spielte? Neueste Studien gehen von einem Zusammenspiel unterschiedlichster Gründe aus: Stärker werdende Konflikte mit den Inuit und reduzierte Nachfrage nach Walross- und Eisbärprodukten und somit wirtschaftliche Isolation von Europa. Die Washington Post zitiert Judith Jesch, die das Centre for the Study of the Viking Age an der University of Nottingham leitet: „Die Ursachen für das Ende der Nordmänner in Grönland sind wirtschaftliche, kulturelle und demographische Faktoren und vielleicht der Zusammenbruch der sozialen Ordnung, die die Wirtschaft am Laufen hielt.“
Nicht alle sind von den neuesten Forschungsergebnissen überzeugt. Der Archäologe Thomas McGovern vom Hunter College in New York City sagte dem Smithsonian Magazine, dass die archäologischen Befunde klar auf eine Klimaveränderung um 1250 hindeuten würden. Die Robbenknochen beispielsweise, die bei den Siedlungen gefunden wurden, stammen von einer Robbenart, die eher auf Eis auf dem Meer lebt. Auch die chemische Zusammensetzung der menschlichen Knochen würde auf eine hauptsächliche Ernährung von Robben und Fischen hindeuten, weniger auf eine landwirtschaftliche. Beides Hinweise auf eine klimatische Veränderung bzw. Abkühlung.
Die Antwort auf die Frage nach dem Verschwinden der Wikinger aus Grönland lässt sich also auch nach diesen neuesten Forschungsergebnissen nicht abschließend beantworten.
Mehr zu den Wikingern in der Deutschen Digitalen Bibliothek:
Norbert Schürer: Grönland im Buch: Wikinger bis Inuit (1993)
Heiko Steuer: Der Handel der Wikingerzeit zwischen Nord- und Westeuropa aufgrund archäologischer Zeugnisse (1987)
Alle Ergebnisse zu „Wikinger“ in der Deutschen Digitalen Bibliothek