Tauben – von geliebten Haustieren, urbanen Feinden und ausgestorbenen Arten

29.10.2024 Wiebke Hauschildt

New York hat seit kurzem eine umstrittene neue Sehenswürdigkeit: „Dinosaur“ heißt die fünf Meter große Tauben-Statue, die gerade im High Line Park aufgestellt wurde und jetzt über den Straßen der Metropole thront. 

Die riesige Taube war eine von 80 Einreichungen für das Projekt und wurde letztlich ausgewählt, weil sie bei der öffentlichen Abstimmung am meisten Sympathie und gleichzeitig (Überraschung!) am meisten Empörung auslöste. 

Dass diese Statue ausgerechnet in New York steht, scheint historisch mehr als passend, ist doch die Stadt der Ausgangspunkt für die zumindest semantische Misere der Taube: Im Juni 1966 prägte der New York City Parkbeauftragte Thomas Hoving die Begrifflichkeit „rats with wings“. Die Öffentlichkeit erfuhr von der Umbenennung der Tauben in „Ratten der Lüfte“ durch Woody Allens Film Stardust Memories (1980). Der internationale Erfolg des Films führte schließlich dazu, dass der harmloseste aller "urbanen Feinde" heute weltweit so genannt wird. 

Doch wie wurde aus einem seit Jahrtausenden domestizierten Haustier, einem der beliebtesten Vögel in der Geschichte der Menschheit, innerhalb weniger Jahrzehnte ein Hassobjekt, das bei so vielen Menschen Ekel und Empörung hervorruft? Die kurze Antwort: Es geht um Fehlinformationen, kollektiven Gedächtnisverlust und den begrenzten Raum, den Mensch und Tier sich teilen. 

Vom alten Ägypten, moderner Architektur und vermeintlicher Freiheit 

Die Taube gilt als der erste domestizierte Vogel der Menschheit: Bereits 5.000 Jahre v. Chr. soll der Übergang vom Wildtier zum Nutztier in Ägypten und Mesopotamien (heute Irak) vollzogen worden sein. Die Felsentaube (Columba livia) lebte damals in den Gebirgen und Klippen Nordafrikas und brütete in den dortigen Felsspalten, bis ihre vielen nützlichen Eigenschaften (Fleisch, Kot als Dünger, Orientierungsvermögen) sie zum perfekten Nutztier machten. Die heutigen Stadttauben sind direkte Nachfahren der Felsentauben und waren somit in Deutschland zunächst nicht heimisch. 

Sie reisten als Haustiere nach Europa, wurden importiert und gezüchtet, aber auch ausgesetzt oder gingen verloren und schlossen sich zu Schwärmen zusammen. Wurden Tauben im alten Indien und bei germanischen Stämmen noch als Verkörperung menschlicher Seelen gesehen, in der Antike als das Sinnbild für Unschuld und Reinheit, in der Moderne als Friedenssymbol und biblisch als Hoffnung mit Ölzweig, hatte das Nutz- und Haustier Mitte des 20. Jahrhunderts plötzlich ausgedient und fand sich als „Ratte der Luft“ auf den Straßen der Städte wieder. 

Eine neue Dynamik bekam die Sache durch den Zweiten Weltkrieg – viele Taubenschläge wurden zerstört, sodass in kurzer Zeit sehr viele Tiere in die Freiheit gelangten. Dort wartete auf die reinen Körnerfresser häufig der Hungertod.

Was die Tauben in den Städten jedoch finden, sind die Bedingungen, die sie benötigen, um zu brüten, denn moderne Gebäude bieten – ähnlich wie Felsspalten – Nischen zum Nestbau. Die wilde Felsentaube brütet nur zweimal im Jahr: zu wenig als Fleisch- und Eierlieferant für den menschlichen Konsum. Also züchtete man dem domestizierten Tier einen sogenannten „Brutzwang“ an. Heutige Stadttauben sind Ganzjahresbrüter, die sich auch durch Futtermangel nicht von der Fortpflanzung abhalten lassen – was sie von ihren wilden Verwandten unterscheidet. 

Tauben im Dienst des Menschen: Luftpost, Kriegseinsätze und plötzlich Weltkulturerbe 

Bevor wir kollektiv vergessen haben, dass Tauben hochintelligente Tiere sind – auf einer Stufe mit Delfinen, Affen und Rabenvögeln – standen sie einige tausend Jahre im Dienst des Menschen. Und das nicht nur als Fleisch-, Eier- und Düngerlieferanten. Ihre Intelligenz, ihr Gedächtnis- und Orientierungsvermögen, ihre Schnelligkeit und ihre Menschenbezogenheit ließen die Tiere Karriere machen, meist im Bereich der Luftpost. Einige erhielten Medaillen und wurden als Kriegsheld*innen geehrt: Zwei der berühmtesten Brieftauben des letzten Jahrhunderts hießen Cher Ami und G.I. Joe. 

Cher Ami rettete im Ersten Weltkrieg fast 200 US-Soldaten das Leben, die irrtümlich von den eigenen Truppen beschossen wurden. Diverse Tauben wurden losgeschickt, nur Cher Ami kam an. Die der Taube ans Bein geschnürte Botschaft war kurz und endete prägnant: „For heaven’s sake, stop it.“ Cher Ami schaffte die 40 Kilometer durch den Kugelhagel der eigenen Artillerie innerhalb einer halben Stunde und überbrachte die Nachricht erfolgreich, aber schwerverletzt. Der Täuberich wurde mit dem französischen „Croix de Guerre“ geehrt und durfte in die USA zurückkehren. Heute steht der Kriegsheld ausgestopft im Smithsonian’s National Museum of Natural History. 

Die Brieftaube G.I. Joe kam im Zweiten Weltkrieg zum Einsatz: Die Briten hatten die italienische Stadt Calvi Vecchia schneller als erwartet eingenommen, wovon die US-Armee jedoch noch nichts wusste. G.I. Joe überbrachte die Nachricht der Einnahme kurz bevor die Luftwaffe zum Bombardement startete – und rettete so Tausenden italienischen Zivilist*innen und Angehörigen der britischen Armee das Leben. Als Mitglied des US Army Pigeon Service erhielt die Brieftaube 1946 für ihre Verdienste im Krieg eine Medaille und ging im Zoo von Detroit in Rente. 

Moderne Kommunikationsmittel ersetzten letztlich die Brieftauben als Nachrichtenüberbringer*innen – was blieb, war der „Brieftaubensport“. Jährlich werden Tausende von Brieftauben durch Europa gefahren, um in Wettflügen gegeneinander anzutreten, die teilweise mit Preisen im fünfstelligen Bereich dotiert sind. Es gewinnt die Taube, die am schnellsten (mit bis zu 120 km/h!) zurück zu ihrem Heimatschlag gelangt. Dafür trennt man die monogam lebenden Tiere von ihren Partnertieren. Der Drang, so schnell wie möglich zu diesen zurückzukehren, hat ebenfalls einen Preis: Studien zufolge liegt die Verlustrate pro Wettflug bei circa 50 Prozent. Die Tiere sterben oder verlieren die Orientierung und stranden in den Städten, wo sie die Stadttaubenpopulationen vergrößern. Was für die einen Tierquälerei ist, ist für die UNESCO seit 2022 Immaterielles Weltkulturerbe. 

Der Mythos vom Kot, Pigeonfluencers und die woke Taube

Ein einzigartiges Talent des Menschen ist das Geschichtenerzählen. Diese Gabe ist nicht nur einzigartig, sie kann auch sehr schön sein - und sehr gefährlich, zum Beispiel für das Objekt der Geschichte. Die Stadttauben können ein Lied davon singen, alternativ gurren. Fassen wir zusammen, welche Geschichten unter anderem über Stadttauben erzählt werden: Sie sind Krankheitsüberträgerinnen, ihr Kot ist ätzend für Fassaden und schädlich für Menschen. Das alles ist mittlerweile wissenschaftlich widerlegt und ganz allmählich wandelt sich das Narrativ der Stadttaube als gefährlicher Feind und „Ratte der Luft“. 

Ein Beispiel: Gerade erst hat das Museum of London sich rundum erneuert. Es heißt jetzt London Museum, und das neue Logo ist eine weiße Taube mit einem Klecks glitzerndem Kot. Man muss nicht viel Fantasie besitzen, um sich ausmalen zu können, wie die Reaktionen auf das „Pigeon and Splat“-Logo ausgefallen sind. Museumsdirektorin Sharon Ament begründet die Entscheidung so: „Die Taube und der Kot sprechen von einem historischen Ort voller Dualitäten, einem Ort, an dem der Dreck und der Glanz seit Tausenden von Jahren Seite an Seite existieren. Wir teilen unsere Stadt mit anderen, einschließlich Millionen von Tieren. Tauben sind überall in London, und wir sind es auch.“

In Sharon Aments Worten findet sich ein Dilemma zwischen Menschen und Tauben wieder: das Teilen von Räumen, in deren Besitz der Mensch sich wähnt und in denen das Tier lebt. Der US-amerikanische Soziologe Colin Jerolmack, der sich lange mit Tauben und Menschen in Städten auseinandergesetzt hat, meint, der Hass auf die Tauben sei darin begründet, wie wir über sie denken: Ihre größte Sünde sei, dass sie in den Städten für uns nicht am richtigen Platz sind. 

Das Ansehen der Taube als Schädling ist seiner Meinung nach ein Symptom für die Vorstellung der Menschen, dass die von uns gebaute Umwelt von der natürlichen getrennt ist. In dem, was Soziologen unsere „imaginative Geografie“ der Städte nennen, gibt es eine Grenze zwischen der sauberen, geordneten Zivilisation und der wilden, unkontrollierten Natur. „Das bedeutet nicht, dass es keine Natur gibt, aber im Idealfall ist die Stadt der Ort, an dem wir die Natur in einer Weise einladen, die wir kontrollieren“, sagt Jerolmack. „Wir schneiden kleine Quadrate in den Beton, und dort gehören die Bäume hin. Wir mögen es nicht, wenn Gras und Unkraut durch die Risse in den Bürgersteigen wachsen, denn das ist die Natur, die aus den Grenzen ausbricht, die wir ihr auferlegen wollen.“ 

Während Ratten sich tagsüber in die Kanalisation und die Büsche verziehen, sind Tauben überall im Stadtbild sichtbar. Wenn sie dann noch als Krankheitsüberträgerinnen gesehen werden, erscheinen sie als klare Bedrohung. Mit solch einer Bedrohung möchte der Mensch seinen Lebensraum nicht teilen. Doch haben Tauben keinen anderen Raum. Als verwilderte Haustiere sind sie auf artgerechte Fütterung angewiesen, sie übertragen nicht mehr Krankheiten als andere Tiere, achten penibel auf Reinlichkeit und der Kot gesunder Tauben ist braun und fest (und ein sehr guter Dünger). 

Um ein Narrativ breitenwirksam zu ändern, eignet sich eine relativ neue Kommunikationsform ganz hervorragend: Social Media. Die sogenannten „Pigeonfluencer“, also Tauben-Influencer, von Malte Zierden bis Merlot the Pigeon und Amina Martin, verzeichnen hunderttausende Follower*innen, die täglich die Geschichten der Tiere mitverfolgen. Die Accounts klären mittels unterhaltsamer Videos auf, veröffentlichen erfolgreiche Kinderbücher („Malte & Oßkar und das Glück, Pech zu haben“) und betreiben Bildungsarbeit in Kitas und Schulen zum Thema Tauben. 

Eigentlich passen Tauben so gut in die sich wandelnden gesellschaftlichen Strukturen und Werte, dass man sie als „woke“ bezeichnen könnte. Taubeneltern sind äußerst gleichberechtigt bei der Kükenaufzucht. Es wird im Wechsel gebrütet, beide Elternteile produzieren „Kropfmilch“ (sehr selten im Tierreich, vergleichbar mit der Muttermilch), füttern damit ihre Jungen und betreiben auch sonst komplettes „Co-parenting“, bis die kleinen Racker das Nest verlassen.

Darwin, Dodo und Dinosaurier

Circa 170 Jahre bevor Charles Darwin die Evolutionstheorie mit seiner Veröffentlichung „Über die Entstehung der Arten“ (1859) begründete, starb der Dodo aus. Der Dodo, ausschließlich heimisch auf der Insel Mauritius, war ein flugunfähiger Vogel, der auf dem Boden brütete. Die Ostindien-Fahrer*innen, die auf Mauritius anlandeten, waren für das Aussterben maßgeblich. Sie nahmen den Vogel als Nahrung mit, ließen dafür aber Ratten und Schweine auf der Insel, die die Gelege des Dodos fraßen. Ab dem Jahr 1690, so die Schätzung, war der Dodo aus der Tierwelt verschwunden. 

Lebendig geblieben ist er als englische Redensart ("dead as a dodo", mausetot) oder als ein nie um eine Lösung verlegener Protagonist in Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“. Zuletzt trat der Dodo im Jahr 2002 medial in Erscheinung – als ein britisches Forschungsteam endgültig des Dodos bislang unbekannte Abstammung klärte: Er war eine sehr große Taube.   

Die Erkenntnis, dass der Dodo zur Taubenfamilie gehört, hätte Charles Darwin sicherlich gefreut. Der war nämlich Taubenliebhaber und Mitglied in zwei Londoner Tauben-Clubs. Darwin ließ sich unterschiedliche Taubenarten aus der ganzen Welt schicken, die er sodann nach Wunschmerkmalen züchtete. Dadurch entdeckte er die natürliche Selektion und begründete die Evolutionstheorie.

Die lange, weitgehend harmonische Geschichte des Menschen und der Taube (vom Dodo mal abgesehen) fand vor circa hundert Jahren ihr Ende. Ein guter Zeitpunkt für einen Neuanfang, um den Ruf der Stadttaube zu rehabilitieren, das Elend dieses verwilderten Haustiers zu mindern, alte Wege des Zusammenlebens wiederzuentdecken (Taubenschläge!) und fünf Meter große Taubenstatuen in Städten aufzustellen, damit das manchmal löchrige kollektive Gedächtnis nicht vergisst. 

Warum die New Yorker Riesentaube vom Künstler Iván Argote „Dinosaur“ genannt wurde, begründet er übrigens damit, dass die Größe der Statue eine Hommage an die Vorfahren der Tauben sei, „die vor Millionen von Jahren den Globus beherrschten, so wie wir es heute tun.“ Und so wie die Dinosaurier ausgestorben sind, aber eine kleine Version von ihnen in Form von Vögeln überlebt hat, werden „auch wir eines Tages nicht mehr da sein, aber vielleicht wird ein Rest der Menschheit weiterleben – so wie die Tauben.“

 

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Quellen 

New Yorker Taubenstatue: https://www.reisereporter.de/reisenews/destinationen/in-new-york-steht-riesige-taubenstatue-was-es-mit-dinosaur-auf-sich-hat-BPFSKZSYLVCRFB5XJQ7YRGTHPA.html

The Origins of Our Misguided Hatred for Pigeons: https://www.audubon.org/news/the-origins-our-misguided-hatred-pigeons  

Unterschätzte Genies: https://www.scinexx.de/dossierartikel/unterschaetzte-genies 

Brieftauben in Kriegs- und Friedenszeiten: https://www.letterxpress.de/news/bedeutung-von-brieftauben-in-krieg-und-friedenszeiten 

Gurrende Kriegshelden: https://www.tierwelt.ch/artikel/kleintierzucht/gurrende-kriegshelden-408907 

Heldenhafter Vogel: https://www.sueddeutsche.de/leben/cher-ami-brieftaube-erster-weltkrieg-1.5735049 

Originalbrief von Cher Ami im US-Nationalarchiv: https://catalog.archives.gov/id/595541 

Wie die Brieftaube G.I. Joe die US-Army rettete: https://www.welt.de/geschichte/zweiter-weltkrieg/article153350258/Wie-die-Brieftaube-G-I-Joe-die-US-Army-rettete.html 

Die um ihr Leben fliegen: https://taz.de/Streit-um-die-Brieftaube/!5708236/ 

UNESCO Brieftaubenwesen: https://www.unesco.de/kultur-und-natur/immaterielles-kulturerbe/immaterielles-kulturerbe-deutschland/brieftaubenwesen 

Museum of London reveals new name and ‚pigeon and splat‘ logo: https://museumsandheritage.com/advisor/posts/museum-of-london-reveals-new-name-and-pigeon-and-splat-logo/ 

Erna-Graff-Stiftung zu Kot/Krankheitsüberträger: https://www.erna-graff-stiftung.de/tauben/ 

Scinexx das Wissenschaftsmagazin zu Kot und Krankheit: https://www.scinexx.de/dossierartikel/kot-und-krankheit/

National Geographic: Über die traurige Geschichte der Stadttaube: https://www.nationalgeographic.de/tiere/2024/03/ratten-der-luefte-ueber-die-traurige-geschichte-der-stadttaube

Charles Darwin und die Tauben: http://www.cbz-1910.de/Charles_Darwin_und_Tauben__marz_2020_-noch_in_hp.pdf 

Seltsamer Vogel: Der Dodo tappt im Taubenland https://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/seltsamer-vogel-der-dodo-tappt-im-taubenland-a-184826.html 
 

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