Kulturerbe erzählt: Die Künstlerin Gertrude Sandmann

08.04.2025 Theresa Rodewald

Am Karlsbad 11 in Berlin-Tiergarten steht heute ein Bürokomplex aus stahlgrauem Stein und spiegelndem Glas. Die CA Immo Group, der das Gebäude gehört, wirbt mit der Nähe zum U-Bahnhof Gleisdreieck und zum Landwehrkanal, den zahlreichen Einkaufsmöglichkeiten und dem Blick ins Grüne.

Dieser Blick ins Grüne  ist eine winzige Parkanlage mit Spielplatz und einem Dutzend Bäume. Einige von ihnen sind alt, Teil des Tiergartens, der dem Viertel seinen Namen gibt und es als Großer Tiergarten einst komplett bedeckte.

Das ehemalige Jagdrevier wird Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem englischen Landschaftspark umgestaltet. Neben schattigen Spazierwegen und Ausflugslokalen, befinden sich hier auch exklusive Villen und gutbürgerliche Wohnhäuser. In einem von Martin Gropius (dem Großonkel des Bauhaus-Gründers Walter Gropius) entworfenen Haus wächst die am 16. Oktober 1893 geborene Gertrude Sandmann auf.

 

Gertrudes Familie ist wohlhabend, der Vater, David Sandmann, besitzt eine Plantage in Ostafrika – die Familie profitiert also direkt vom Kolonialismus. David Sandmann ist außerdem Spirituosenfabrikant, Handelsrichter, Bürgerdeputierter und Hobbywissenschaftler (in dieser Funktion schreibt er eine Abhandlung über „Das Kautschukproblem“).

1917 stirbt David Sandmann überraschend nach kurzer Krankheit. Die Traueranzeigen in den Berliner Zeitungen zeugen davon, wie gut die Familie in der Berliner Gesellschaft verankert ist.

 

Gertrude Sandmann entwickelt früh eine Leidenschaft und ein Talent fürs Zeichnen. Nach dem Abitur 1913 beginnt sie eine Ausbildung beim Verein Berliner Künstlerinnen. Dass sie nicht an der Akademie der Künste studiert, liegt daran, dass die Akademie zu diesem Zeitpunkt allen Frauen das Studium verweigert. Der Verein Berliner Künstlerinnen gründete sich 1867 als direkte Antwort auf diese sexistischen Regeln – und er besteht bis heute. Gertrude studiert zusätzlich von 1917 bis 1921 in München bei Otto Kopp und nimmt anschließend (wieder in Berlin) Privatunterricht bei niemand geringerem als Käthe Kollwitz.

Mitte der 20er-Jahre arbeitet Gertrude schließlich als freischaffende Künstlerin in Paris. Geld verdient sie mit Illustrationen für Magazine. Als Künstlerin ist es für sie wesentlich schwerer, sich in der Szene zu etablieren, als für viele ihrer männlichen Kollegen. Gemeinsam mit anderen Künstlerinnen organisiert sie sich deshalb in der Gemeinschaft der Künstlerinnen und Kunstfreunde (kurz: GEDOK).

Viele von Gertrude Sandmanns Arbeiten werden später im Krieg zerstört und es gibt kein Verzeichnis ihrer Werke. Die 20er-Jahre sind, so scheint es, eine produktive Zeit und sie stellt mehrmals in Berlin aus. In ihren Arbeiten konzentriert Sandmann sich auf Zeichnungen. Es kommt, so schreibt die Historikerin Claudia Schoppen, ihr auf die Form an, sie arbeitet mit Auslassungen:  „Gertrude Sandmanns Bilder sind in erster Linie das Ergebnis ihrer Freude am Sehen.“ Außerdem zeichnet Gertrude Sandmann vor allem Frauen. Diese, so zitiert Claudia Schoppen die Künstlerin, seien ihr als Frau einfach näher als Männer. 

Dass sie lesbisch ist, weiß Gertrude Sandmann schon früh. 1915, mit 22 Jahren, heiratet sie trotzdem den Arzt Hans Rosenberg. Claudia Schoppmann vermutet, dass sie damit den Anforderungen ihrer Eltern gerecht werden will. Die Ehe wird schon nach kurzer Zeit wieder geschieden. Gertrude kommt das nicht nur aufgrund ihrer sexuellen Orientierung, sondern auch beruflich entgegen.

In den 1970er-Jahren schreibt sie: „Erforderlich oder zumindest günstig ist es für eine Künstlerin, nicht in einer Verbindung zu leben, die Ansprüche im Sinne der patriarchalischen Rollenverteilung an sie stellt, sondern in einer Bindung, die ihre Arbeit nicht hindert, ihre Entwicklung nicht hemmt, also eine Verbindung, die viel Gegenseitig-Kameradschaftliches enthält. Darum erscheint es mir als ein Glück, wenn man als Künstlerin Lesbierin ist und sich auch wie ich ohne Schuldgefühle dazu bekennen kann.“

In den 1910er-Jahren ist Gertrude mit ihrer ehemaligen Schulfreundin Lilly zu Klampen liiert. In den 70er-Jahren erinnert sie sich daran, wie wichtig die queeren Clubs im Berlin der Weimarer Republik für sie waren – um gleichgesinnte Frauen zu treffen, sich aus der gesellschaftlich auferlegten Isolation zu befreien und ein Zuhause jenseits des biologischen Elternhauses zu finden.

Gleichzeitig betont sie, dass die Zeit keineswegs so frei war, wie im Nachhinein gerne angenommen wurde. Ein offen lesbisches Leben kann Gertrude Sandmann erst nach dem Zweiten Weltkrieg führen. Außerdem übt sie Kritik an der verklärenden Nostalgie für die angeblich goldenen Zwanziger, „weil man nicht an das Elend der Kriegsversehrten und - hinterbliebenen, nicht an die Inflation und Arbeitslosigkeit denkt, von der auch die Frauen schwer betroffen wurden, sondern nur an die großen künstlerischen Leistungen in dieser Zeit, nur an die schäumende Lebensfreude, die Reaktion auf den jahrelangen seelischen Druck des Krieges, nur an die Lockerung der Sex-Tabus.“

Seit 1927 ist Gertrude mit der Kunstgewerblerin Hedwig Koslowski, genannt Jonny, zusammen.  Diese wird ihr, gemeinsam mit einer Handvoll Berliner Freund*innen, das Leben retten. Denn im März 1933 gewinnt die NSDAP die Reichstagswahlen, kurz darauf wird das Reichstagsgebäude in Brand gesteckt, was der Partei einen Vorwand gibt, die demokratischen Institutionen auszuhebeln, Hindenburg ernennt Hitler zum Reichskanzler und die Weimarer Republik ist Geschichte.

Gertrude Sandmann ist Jüdin und erkennt früh, dass ihr im neuen Deutschland Gefahr droht. Sie ist weder besonders religiös aufgewachsen, noch ein Mitglied der Jüdischen Gemeinde Berlins (dort war sie 1926 ausgetreten) und emigriert trotzdem in die Schweiz. Dort erhält sie allerdings keine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis und muss 1934 nach Berlin zurückkehren. Die restriktiven Asylbestimmungen der europäischen Länder (und der USA) kosten unzähligen Menschen das Leben und die menschlichere Asylpolitik der Nachkriegszeit ist ein direktes Ergebnis davon.

Im April 1935 erhält Gertrude Sandmann ein Schreiben von Eugen Hönig, dem Präsidenten der Reichskammer der bildenden Künste. Dieser lehnt ihr angebliches Gesuch, in die Reichskammer aufgenommen zu werden ab, „da Sie Nichtarier sind und als solcher die für die Schaffung deutschen Kulturgutes erforderliche Zuverlässigkeit und Eignung nicht besitzen.“

Dass Gertrude Sandmann das Gesuch nie gestellt hat, spielt dabei keine Rolle. Der Ausschluss bedeutet Berufsverbot. Auch wenn Gertrude Sandmann heimlich weiterzeichnet, hat sie nun praktisch kein Einkommen mehr. Nur das Vermögen ihres verstorbenen Vaters ermöglicht es ihr, sich finanziell über Wasser zu halten. Gleichzeitig muss sie Schmuck und Wertsachen abgeben und wird, wie alle anderen Jüd*innen, dazu gezwungen, sich an den Bußzahlungen für die Reichspogromnacht vom 9. November 1938 zu beteiligen.

Das Haus Am Karlsbad 11 wird auf ihre Schwester Vera Mastrangelo umgeschrieben, die in Italien wohnt und durch ihre Heirat die italienische Staatsbürgerschaft hat – dadurch wird dieser Besitz nicht enteignet und Gertrude und ihre Mutter Ella können dort wohnen bleiben. Im Sommer schafft Gertrude Sandmann es durch die Vermittlung eines befreundeten Kunsthändlers, eines der raren Visa für Großbritannien zu ergattern. Sie bringt es jedoch nicht übers Herz, die bereits schwer kranke Mutter in Berlin ihrem Schicksal zu überlassen. Im September 1939 beginnt der Zweite Weltkrieg, einen Monat später stirbt Gertrudes Mutter – das Visum hat zu diesem Zeitpunkt keine Gültigkeit mehr und eine Emigration in ein anderes Land ist kaum noch möglich.

Zwei Jahre später, im Oktober 1941, folgt das Ausreiseverbot für Jüd*innen. Forcierte man ihre Ausreise noch vor kurzer Zeit, werden nun Deportationen und industrieller Massenmord vorbereitet. Emigration ist für Gertrude Sandmann keine Option mehr. Nur aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustands wird sie nicht zu Zwangsarbeit verpflichtet. Deshalb droht ihr im November 1942 aber die Deportation. Gertrudes Tante und Onkel sind im Sommer desselben Jahres nach Theresienstadt deportiert wurden, wo sie später ermordet werden.

Gertrude Sandmann entschließt sich am 21. November 1942 dazu, unterzutauchen. Sie täuscht ihren Suizid vor, indem sie der Gestapo einen Abschiedsbrief hinterlässt, was auch bedeutet, dass sie ihre Habseligkeiten und die wertvollen Lebensmittelmarken zurücklassen muss. Viele ältere Jüd*innen werden durch die bevorstehenden Deportationen tatsächlich in den Suizid getrieben. Über ihre Partnerin Hedwig Koslowski erhält Gertrude Unterschlupf bei der Familie Grossmann in Berlin-Treptow. Dort versteckt sie sich in einer kleinen Kammer, muss jedes Geräusch vermeiden und während Luftangriffen in der Wohnung ausharren, anstatt im Luftschutzkeller in relativer Sicherheit zu sein – zu hoch ist das Risiko, von Nachbar*innen entdeckt und denunziert zu werden. Einmal wird sie fast vom Luftschutzwart entdeckt und muss sich in einem Schreibtisch verstecken.
 

Die ständige Unsicherheit, das Ausharren, die Langeweile setzen Gertrude Sandmann genauso zu, wie der Lebensmittelmangel. Zeit ihres Lebens wird sie von Albträumen verfolgt und plötzliches Klingeln und Klopfen triggern Angstzustände.

Auch im Versteck zeichnet Gertrude Sandmann weiter. Einige dieser „Erinnerungszeichnungen“ haben den Krieg überstanden. Sie sind oft auf Altpapier, Formularen oder Abrechnungen angefertigt; Gertrude trainiert damit ihr Gedächtnis und ihre Finger. Die Zeichnungen zeigen Menschen, Gegenstände und Pflanzen.

Im Sommer 1944 ist die Situation bei Familie Grossmann unhaltbar geworden. Die Alliierten fliegen vermehrt Luftangriffe und Gertrude hat Sorgen, die Familie in Gefahr zu bringen. Wieder ist Hedwig Koslowski zur Stelle. Sie versteckt Gertrude in einer Gartenlaube in Berlin-Biesdorf und versorgt sie dort abwechselnd mit einer Freundin mit Essen. Um nicht entdeckt zu werden, darf Gertrude  darf weder Feuer oder Licht machen.

Nur autogenes Training und das Aufsagen von Gedichten halten Gertrude, so erinnert sie sich später, davon ab, den Verstand zu verlieren. Mit Einbruch des Winters kann Gertrude auch in der unbeheizten Gartenlaube nicht länger bleiben. Hedwig versteckt sie darauf in ihrer eigenen Wohnung in Schöneberg. Dort erlebt das Paar schließlich die Befreiung.

Nach dem Krieg zieht Gertrude Sandmann mit Hedwig Koslowski in eine Wohnung mit Atelier in der Eisenacher Straße in Schöneberg. Das Elternhaus am Karlsbad 11 wurde bei einem Luftangriff zerstört. Gertrude beginnt wieder, zu zeichnen, kann an den Erfolg der 20er-Jahre aber nicht mehr anknüpfen. In Düsseldorf hat sie eine Einzelausstellung, in Berlin beteiligt sie sich an Gruppenausstellungen.

Die Jahre Berufsverbot, Versteck und Illegalität sind eine geraubte Zeit, die sie nie zurückbekommen wird. Auch ihre Gesundheit ist durch die Strapazen des Untertauchens stark angeschlagen. Sie erhält eine kleine Rente, die es ihr ermöglicht, sich ganz der Kunst zu widmen. 1956 trennen sich Gertrude Sandmann und Hedwig Koslowski. Bis zu ihrem Tod ist Hedwig mit der ehemaligen Artistin Tamara Streck, die sich zeitweise als Kraftfahrerin ihr Geld verdient, in einer Liebesbeziehung.

In den 1970er Jahren engagiert Gertrude Sandmann sich in der Frauen- und Lesbenbewegung. Sie ist Mitgründerin der Gruppe L74 – „eine Gruppe älterer, berufstätiger Lesbierinnen“, die, so schreiben sie in ihrem Gründungstext L wie Lesbos, die Gruppe gründeten, weil sie mit der „Sprache und den teilweise radikal geäußerten Theorien und Utopien [der jüngeren Frauen im lesbischen Aktionszentrum] nicht viel anfangen“ konnten und sich in der „Atmosphäre zwischen Matratzen und leeren Bierflaschen nicht wohl[fühlten].“ Außerdem ist Gertrude Sandmann in der Frauengalerie Andere Zeichen aktiv und gibt das lesbische Magazin Unsere Kleine Zeitung (UKZ) mit heraus.

1979 stirbt Tamara Streck, was Gertrude schwer zusetzt. Knappe zwei Jahre später, im Januar 1981  verstirbt sie im Alter von 87 Jahren – ihr Grab befindet sich auf dem Alten St.-Matthäus-Friedhof in Berlin-Schöneberg. Vor ihrem Wohnhaus in der Eisenacher Straße erinnert seit 2013 eine Gedenktafel an ihr Leben. Heute sind die Zeichnungen von Gertrude Sandmann weitaus weniger bekannt als beispielsweise Otto Dix‘ künstlerische Dokumentation der Weimarer Republik. Ihr Werk ist auch weniger dezidiert politisch und sozialkritisch – es gibt persönliche, alltägliche Einblicke in die 1920er-Jahre und die Nachkriegszeit, die jedoch nicht weniger relevant, nicht weniger eindrucksvoll sind.

 

Quellen

Claudia Schoppmann: "'Finden sie mich, oder finden sie mich nicht.' Gertrude Sandmann 1893-1981" https://www.lesbengeschichte.org/Pdfs/pdfs_bio_skizzen_deutsch/sandmann_schoppmann_d.pdf 

Berlinische Galerie: Gertrude Sandmann https://berlinischegalerie.de/out-and-about/gertrude-sandmann/ 

Gedenkstätte Stille Helden: https://www.gedenkstaette-stille-helden.de/stille-helden/biografien/biografie/detail-582 

Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Gertrude_Sandmann 

Frauen im Widerstand: https://www.frauen-im-widerstand-33-45.de/biografien/biografie/sandmann-gertrude

Gedenktafeln in Berlin: https://www.gedenktafeln-in-berlin.de/gedenktafeln/detail/gertrude-sandmann/2995 

taz: https://taz.de/!417967/