Es war einmal… Das Bilderbuch-Kino in der DDR

07.10.2024 Dr. Ron Schlesinger (Gastbeitrag)

Sie war die Attraktion bei Kindergeburtstag oder Familienfeier: eine Vorführung mit Dia-Rollfilmen, auch Color-Bildbänder genannt. Mit Hilfe eines Bildwerfers erschienen Tier- und Abenteuergeschichten, aber vor allem Märchen an der (Kinderzimmer-)Wand. Doch welche Geschichten wurden gezeigt, und was hatten die in der sozialistischen Kulturpolitik stets argwöhnisch beäugten Comics damit zu tun? Na dann: Licht aus, Linse scharf gestellt und Film ab!

Lesedauer: ca. 10 Minuten

In einer Zeit digitaler Beamer muten per Hand betriebene Bildwerfer, auch Diaprojektoren genannt, wie Relikte aus ferner Vergangenheit an. Und doch standen sie vor einigen Jahrzehnten fast in jedem DDR-Haushalt. Zwar gab es vereinzelt auch Schmalfilm-Projektoren für Heimfilme oder ab Ende der 1980er-Jahre Videorekorder, doch letztere waren Importware in kleinen Stückzahlen und kosteten viel Geld.

Die Bildwerfer füllten diese Lücke, allen voran die Pouva „Magica“ (später: Jugendbildwerfer „Magica“) aus dem Volkseigenen Betrieb (VEB) Edelstahlwerk 8. Mai 1945 im sächsischen Freital. Ihr Name ging auf den Ingenieur Karl Pouva (1903–1989) und die Laterna Magica (dt.: Zauberlaterne) zurück. Pouva brachte den schwarzen, einfach zu bedienenden Kleinprojektor Anfang der 1950er Jahre heraus. Ab 1958 kostete er 22,10 DDR-Mark und wurde bis 1989/90 produziert.

Wie der Bildwerfer Pouva „Magica“ funktionierte

Die Pouva „Magica“ war neben Dias für kleine Rollfilme konzipiert. Diese sehen wie 35-Millimeter-Fotofilme für analoge Kleinbildkameras aus und wurden in den Bildwerfer eingelegt. Dann löschte man das Zimmerlicht oder dunkelte den Raum ab, stellte die Linse scharf und drehte den Film per Hand mittels zwei Spulen weiter. Ein großes weißes Blatt Papier, eine helle Zimmerwand oder eine mit Bettlaken abgehängte Tür wurden zur Leinwand. Kinder wie Erwachsene erlebten so Bild für Bild eine „Kinovorführung“ in den eigenen vier Wänden.

Die Dia-Rollfilme – erst in Schwarzweiß, später in Farbe – stellten in der DDR verschiedene Firmen her, zum Beispiel Imago Strahlbild, Ascop oder Drei-Ring-Bildschau. Massenorganisationen, wie die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF), gaben ebenso Bildbänder heraus. Verpackt waren diese und andere in Kunststoff- und Plastikdosen oder Pappschächtelchen, auf denen oft ein Bild aus dem Dia-Rollfilm abgedruckt war, und die es im Foto-Fachhandel zu kaufen gab.

Gezeigt wurden neben Fotostrecken über Städte, Landschaften, Kultur- und Gedenkstätten sowie Sportereignisse auch Tier- und Abenteuergeschichten, aber vor allem Märchen in gezeichneten Bildserien. Diese gingen auf die Brüder Grimm, Hans Christian Andersen oder Wilhelm Hauff, aber auch auf Tausendundeine Nacht und osteuropäische Länder zurück. Der Text war als Blocksatz unter oder im Flattersatz in die Bilder gesetzt, lag als Handzettel bei oder war auf Schallplatte oder Tonband gesprochen.

Erst Märchenkinofilme, dann gezeichnete Märchenbilder

Bei Dia-Rollfilmen nach Märchenvorlagen ragte die Deutsche Film-AG (DEFA), das staatliche Filmstudio der DDR, bei weitem heraus. Von den gut 400 Color-Bildbändern, die der VEB DEFA-Kopierwerke ab den 1950er-Jahren produzierte und zuletzt für je 4,75 (Einzelband) oder 9,80 DDR-Mark (Doppelband) verkaufte, entfielen bis 1990 über ein Viertel auf das Märchen-Genre.

Den Anfang machten allerdings keine gezeichneten Bildbänder, sondern sechs bekannte Animations- und Spielfilme nach Märchenvorlagen. Darunter befanden sich „Das kalte Herz“ (1950) und „Die Geschichte vom kleinen Muck“ (1953): Aus beiden DEFA-Kinofilmen wurden jeweils etwa 120 Szenenfotos auf insgesamt vier Dia-Rollfilme kopiert („Der kleine Muck“, Nr. 28–31; „Das kalte Herz“, Nr. 32–35). Die Bildbeschreibung stand auf extra Texttafeln zwischen den Szenenfotos, was an den Stummfilm der 1910er- und 1920er-Jahre erinnerte. Gut möglich, dass die DEFA damit etwas Neues ausprobieren und sich von Mitbewerbern wie Imago und Ascop abgrenzen wollte. Überdies hatte sie als Synchron- und Produktionsfirma die Rechte an den Filmen und konnte Synergien nutzen.

Danach folgten bis 1989/90 knapp 80 gezeichnete Märchen auf etwa 100 Dia-Rollfilmen, an denen rund 35 Künstler*innen beteiligt waren. Bevorzugt wurde darin eine naturalistische, realitätsnahe Märchenwelt, die sich an Bildtraditionen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts lehnte. Das war (vor allem) in der Generation begründet, die diese Geschichten zeichnete: Maler wie Franz Kerka (1910–1968), Heinz Völkel (1912–1976), Heinz Rammelt (1912–2004) oder Günter Hain (1916–1997) lernten ihr Handwerk in den 1930er-Jahren und blieben später ihrem Stil treu.

„Walt Disney des Ostens“ und „Stadtchronist mit dem Zeichenstift“

Zugleich waren sie von der Illustrationsgeschichte des Märchens geprägt, besonders von seiner bis heute populären Bildikonografie. Die Maler setzten aber mit ihrem Talent immer eigene Impulse: Rammelt, genannt der „Walt Disney des Ostens“ oder Hain, der als Görlitzer „Stadtchronist mit dem Zeichenstift“ bezeichnet wurde. Rammelts „Der gestiefelte Kater“ (Nr. 79, 2. Fassung), der seine Begabung für Tierdarstellungen zeigt, und Hains detailreiche Schloss- und Stadtansichten in „Der Froschkönig/Die Sterntaler“ (Nr. 110, 2. Fassung) sind treffliche Beispiele.

Zeichnerinnen, wie Sigrid Huss (*1929) und Gisela Schmidt (*1933), standen dieser Männerriege in nichts nach. Mehr noch: Mit 18 Märchen-Dia-Rollfilmen bei der DEFA prägte Schmidt das Genre wie keine andere, z. B. mit „Die Schneekönigin“ (Nr. 94/95). Gleichwohl sind auch bei ihr Einflüsse erkennbar, allem voran der sowjetische Zeichentrickfilm der 1950er-Jahre, mit Figuren in runden und gefälligen Formen, die an Disneys „Snow White“ erinnern.

Huss setzte eher auf gewollt schlicht und bunt illustrierte Märchenwelten, die gleichzeitig auf die Volkstümlichkeit des Genres anspielten und ihre Vorliebe für den Linolschnitt verrieten, z. B. „Die Heinzelmännchen von Köln“ (Nr. 219) und „Die sieben Schwaben“ (Nr. 275). Beide entstanden Ende der 1960er-Jahre, als die gelernte Bildhauerin nach einem Grafikstudium an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee (1956–1961) und beruflichen Verlagsstationen freischaffend arbeitete.

„Wumm!“, „Ratsch!“ und „HALTET DEN DIEB!“

Dem Comic verpflichtet sah sich hingegen das Karikaturisten-Trio Eduard „Edi“ Hessheimer (1921–1992), Willy Moese (1927–2007) und Heinz Jankofsky (1935–2002). Hessheimer arbeitete in „Schneeweißchen und Rosenrot“ (Nr. 191, 2. Fassung) mit sogenannten Speedlines, die Bewegungen verbildlichten. Moese versah die Titelfigur in „Rumpelstilzchen“ (201, 2. Fassung) mit einer Knollnase und setzte dem König eine narrenkappenähnliche Krone auf.

Und der legendäre DDR-Cartoonist Jankofsky verwendete in „Burattino“ (dem sowjetischen Bruder von Pinocchio) viele Denk- und Sprechblasen, Soundwords („Wumm!“, „Ratsch!“) oder Lettering („HALTET DEN DIEB!“) – das sind fettgedruckte Großbuchstaben, die Lautstärke andeuten („Burattino“, Nr. 342–347).

Gleichwohl spiegelten sowohl Zeichnungen als auch Texte die kulturpolitischen Grenzen in der DDR wieder. Dass gerade die an den Comicstil angelehnten Bildbänder eine Randerscheinung blieben, war auch dem Misstrauen der Kulturfunktionär*innen gegenüber dieser als westlich abgestempelten Kunstform geschuldet.

Die Texte hielten sich zwar im Kern an die Märchenvorlagen, wurden aber zum Teil im Sinne einer sozialistischen Erziehung bearbeitet. So erscheint „Dornröschen“ (Nr. 88, 89) als volksnahe, hilfsbereite Prinzessin und den Räubern in „Die Bremer Stadtmusikanten“ (Nr. 83) wird empfohlen, es einmal „mit ehrlicher Arbeit“ zu probieren (beide Texte: Ursula Kroszewsky). Dennoch blieben solche und andere Eingriffe in die Originaltexte, wie auch das Weglassen religiöser Bezüge, die Ausnahme.

 

Originell wirkten da schon eher bewusste künstlerische Zitate, die Bildmotive aus der Malerei übernahmen, sie aber in neue (Märchen-)Kontexte stellten und stereotype Geschlechterrollen aushebelten: So sitzt in „Die Schneekönigin“ (Nr. 94/95) das mutige Räubermädchen, das dem Mädchen Gerda hilft, ihren Freund Kay zu finden, mit Zweispitz auf einem sich aufbäumenden Schimmel. Das Motiv geht auf Jacques-Louis Davids Historiengemälde „Bonaparte beim Überschreiten der Alpen am Großen Sankt Bernhard“ (1800) zurück.

Nach der politischen Wende in der DDR kam für die Dia-Rollfilme der DEFA das Aus. Auch wegen Absatzgründen: Jede*r konnte sich jetzt einen preisgünstigen Videorekorder ins Wohn- oder Kinderzimmer stellen. Seit den 2000er-Jahren erleben die Color-Bildbänder allerdings ein kleines Comeback. So können einige in Märchenbilderbüchern oder online wiedergefunden werden, z. B. auf der Internetseite von Maler Erhart Bauch (1921–1991) oder im leiv Leipziger Kinderbuchverlag sowie bei Heinz Rammelt in der Künstlerbuch-Reihe „FederEdition“. Ganz im Sinne von: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

 

 

Dieser Text entstand als Antwort auf unseren Aufruf „Erzählen Sie Ihre Geschichten!“, in dem wir Nutzer*innen bitten, die Geschichten in unseren Sammlungen zu finden. Bei mittlerweile über 50 Millionen Objekten in der Datenbank der Deutschen Digitalen Bibliothek sollte sich noch einiges zu Tage fördern lassen, das zu erzählen sich lohnt und uns bisher entgangen ist! Haben Sie auch eine Idee? Schreiben Sie uns an kommunikation [at] deutsche-digitale-bibliothek.de (kommunikation[at]deutsche-digitale-bibliothek[dot]de)

 

Quellen:

Sackmann, Eckart: Bänkelsang und Schiebebilder – eine Entwicklungsgeschichte. In: Deutsche Comicforschung, Bd. 2, 2006, Hrsg. von Eckart Sackmann. Hildesheim: comicplus+ Verlag Sackmann und Hörndl, S. 112–122.

Schlesinger, Ron (Hrsg.): Märchen-Dia-Rollfilm in der DDR. Die DEFA-Color-Bildbänder im Überblick. Norderstedt: Books on Demand, VÖ: 11/2024

Vester, Patricia: Das sprechende Licht. Kino im Kinderzimmer – der DEFA-Dia-Rollfilm gestern und heute. Hrsg. von der DEFA-Stiftung. Berlin: [o. V.] 2007

Weißhahn, Guido: DDR-Comics auf DEFA-Rollfilmen. In: Deutsche Comicforschung, Bd. 2, 2006, Hrsg. von Eckart Sackmann. Hildesheim: comicplus+ Verlag Sackmann und Hörndl, S. 123–133.