Collage: Ein runder Kaffeetisch mit weißem Tischtuch, bunten Tassen, Kanne und Kuchen. Um den Tisch herum sitzen fünf Personen. Alle stricken. Alle sind in unterschiedlichen Stilen gezeichnet: Am rechten Rand eine weiblich gelesene Person mit hochgeschlossenem Rüschenkragen und Dutt im Zeichentrick-Stil, links daneben ein realistisch gemaltes Kind, dann eine Heiligenfigur, daneben eine Fotografie von Alan Ridel, neben ihm eine Figur mit Zylinder, impressionistisch gemalt.
Das „Interventive Histo-Strick-Kränzchen mit der Deutschen Digitalen Bibliothek“ auf der re:publica24 (verzückter Autor mittig).

#DDBwerkbank: Historisches Stricken für Anfänger*innen und Fortgeschrittene

12.08.2024 Alan Riedel, Bildung und Vermittlung

Das Alte mit dem Neuen verbinden – mit einem Fuß in der analogen Vergangenheit und mit einem in der digitalen Zukunft. Dieser Spagat gehört zu den mühelosen Aufwärmübungen der täglichen DDB-Morgengymnastik. So ähnlich ist das auch mit dem Stricken.

Die Kulturpraxis des Strickens ist nur scheinbar aus der Zeit gefallen. In Wahrheit ist sie avantgardistisch-visionär und setzt dem allgegenwärtigen Konsumimperativ einen Prozess des Selbst-Machens entgegen (z.B. beim Guerilla Knitting).

Der Nachteil an einem virtuellen Strickkränzchen: Wir können hier nicht ganz bei Null anfangen und setzen in diesem Artikel grundlegende Strickkenntnisse voraus. Der Vorteil: Sie finden im Internet jede Menge gute Videos, die sich speziell an Einsteiger*innen wenden – und schon kann es losgehen!

Schreiten wir voran!

Wir begeben uns auf kaum kartiertes Gelände, das heißt: Wir müssen uns vorantasten, uns manches aus dem Kontext erschließen und altertümliche (Strick-)Schriften entziffern.

Historische Strickmuster lesen und verstehen

Beim Histostricken auf der re:publica24 haben wir die Anleitung rechterhand verwendet.

 

 

Sie ist auch für Anfänger*innen gut geeignet, und es lässt sich an ihr exemplarisch verdeutlichen, wie man beim Nachstricken vorgehen könnte.

Also erstmal lesen und verstehen! Wer mit der Frakturschrift Schwierigkeiten hat, für die*den haben wir diesen kleinen Schatz aus den tiefsten Tiefen der Deutschen Digitalen Bibliothek – lassen Sie sich nicht von den lustigen Aussprachehilfen auf Englisch verwirren.

Hier die Transkription:

Würfeligtes oder mattenartiges Muster. Nimm eine Anzahl Maschen auf, die durch sechs theilbar ist. Wollenes Garn. Nadeln Nr.20.

Erste Reihe – verwendet 3; glatt 3.
Zweite und dritte Reihe – wie die erste.
Vierte Reihe – glatt 3; verwendet 3.
Fünfte und sechste Reihe – wie die vierte.

Dieses Muster eignet sich für Kindersocken und für D’Oyleys aus Baumwolle; – mit sehr starkem wollenen Garne und starken Nadeln giebt es eine gute Decke.

Sie sehen auf den ersten Blick: In der Terminologie hat sich einiges geändert. Doch schon ein zweiter Blick zeigt, dass man sich recht viel erschließen kann: Maschen aufnehmen = Maschen anschlagen. Verwendet 3; glatt 3 – hier fehlt zunächst einmal das Verb (ab-)stricken. Aber was bedeuten „verwendet“ und „glatt“?

Glatt rechts kennt man als Bezeichnung für ein Strickmuster, bei dem auf der Vorderseite der Arbeit lediglich rechte Maschen sichtbar sind. Gehen wir also davon aus, dass mit glatt einfach rechts stricken gemeint ist, dann kann verwendet eigentlich nur noch eins bedeuten: nämlich links stricken.

 

Wie geht’s weiter?

Wer schon geübter ist, kann sich auch anspruchsvolleren Strickherausforderungen stellen! So wie etwa @averagepony, die beim Histostricken auf der re:publica das „Barègemuster für Damen“ entziffert und gestrickt hat.

Hier ein paar Ideen zum Weiterstricken:

Wie wär’s zum Beispiel damit: „Nach Dübois Lehrmethode in einer Stunde den grössten Mannsstrumpf zu stricken“? Eine Nachtmütze für Herren? Ein Opernhäubchen für die Dame?

Oder jetzt – ganz, ganz aktuell! – für den Sommer: ein selbstgestrickter Badeanzug?

 

 

Die schlechte Nachricht zuerst: Spätestens bei solchen Projekten wird es knifflig, denn die verwendete Strickterminologie ist – abhängig von Faktoren wie Zeit, Region oder misanthropischer Grunddisposition der Autor*innen – mitunter undeutlich:

Was eine Wendung ist, kann man sich vielleicht noch denken, aber Felbel-Stricken, geknüttete oder englische Maschen, knöpfeln, näteln – und was ist bloß eine Kugelregentour?! Oder hier: “Walldischgott mit Kräteltour.”

Jetzt die gute Nachricht! Das heißt hier können wir wieder philologische Detektivarbeit leisten! Und um das zu erleichtern, im Folgenden ein paar Quellen, die im Rahmen solcher Rekonstruktionsprojekte absolut unerlässlich sind.

 

 

Virtuelle Histostrick-Handbibliothek

Werkzeuge: Stricken

1. Nadelstärken und Garn: Die unten stehende Grafik vermittelt eine ungefähre Vorstellung der Verhältnisse verschiedener Nadelstärken zueinander, was wiederum gewisse Rückschlüsse auf das Garn zulässt.

 

2. Vokabular: Eine systematische Sammlung oder Erklärung historischer Strick-Terminologie ist uns leider nicht bekannt. Aber: Der stets verlässliche Retter in der Not und das seit dem 19. Jahrhundert: Das Deutsche Wörterbuch der Gebrüder Grimm. Hier zum Ausdrucken in der Deutschen Digitalen Bibliothek. Und hier online für alle, deren Druckerpatronen gerade zur Neige gehen.

3. Maßeinheiten: Das Deutsche Reich vor 1871 – ein Flickenteppich obskurster regionalspezifischer Maßeinheiten. Diese Wikipedia-Seite ist Gold wert – und zwar mindestens einen Roßsaum voll davon, was bekanntlich mengenmäßig in etwa einem Karch plus einem Lägel entspricht. Tipp: Auch die weiterführenden Wikipedia-Seiten beachten.

4. Alte Schriften: Übliche OCR-Programme tun sich leider schwer mit der Umwandlung alter deutscher Schriften in lateinische Zeichen. Einzig Transcribus liefert derzeit brauchbare Resultate – eine Anmeldung ist jedoch erforderlich. Alternativ heißt es: „Schreib‘ dich nicht ab – lern‘ alte Schriften!“ Das ist gar nicht so schwer und eröffnet ein Fenster in eine ansonsten völlig verborgen-bleibende Welt – nämlich in so ziemlich alles vor 1945 Geschriebene.

 

 

Quellen

https://knittinghistory.co.uk: Interessensgemeinschaft zum historischen Stricken mit wissenschaftlichem Anspruch und ein guter Ausgangspunkt für viele weitere nützliche Ressourcen, wie ein Forum, eine gut-gepflegte Bibliographie etc. (auf Englisch).

ravelry.com: Das bekannteste soziale Medium/Muster-Datenbank für Stricker*innen. Hier gibt es etliche Gruppen, die sich mit dem Thema "historische Strickmuster" befassen.

Ganz allgemein: www.deutsche-digitale-bibliothek.de oder www.deutsche-digitale-bibliothek.de/newspaper ansteuern, verschiedene geeignete Suchworte (stricken, Strickmuster, Strickanleitung) durchprobieren dazu die verschiedenen Such- und Filtermöglichkeiten verwenden.

Lambert, Jenny: Das neue Strickbuch, Leipzig 1846. Eine sehr nützliche Ressource! Nicht bloß wegen der schönen Strickmuster, sondern auch dank der Erläuterungen zur verwendeten Strickterminologie.

Lucas, Agnes: Puppenmütterchens Nähschule, Ravensburg 1898. Darin: "Strick- und Häkelarbeiten". Volltext-durchsuchbar" und ganz und gar herzallerliebst.

Mataja, Viktor: "Strickmuster", in: Kälteschutz 1914-1915, Wien 1915. Österreichische Kriegspropaganda-Publikation mit Strickanleitungen für Winterbekleidung für Frontsoldaten in 1. Weltkrieg. Interessant und beklemmend.

Netto, Johann Friedrich und Lehmann, Friedrich Leonhard: Die Kunst Zu Stricken in ihrem ganzen Umfange Oder: Vollständige und gründliche Anweisung alle sowohl gewöhnliche als künstliche Arten von Strickerei nach Zeichnungen zu verfertigen, Bd. 1, Leipzig 1800. Auch hier werden zu Beginn Begriffe erläutert, was für die Arbeit mit anderen Quellen ebenfalls hilfreich ist. Außerdem enthält das Buch teils Grafiken mit Strickschemata und einen großen Anhang mit Farbmustern.

Pauker, Juliane: Neueste Strick-Schule. Geordnet in drei Abtheilungen, welche sich stufenweise vom Leichteren zum Schwerern folgen, und sowohl für die ersten Anfängerinnen als auch für Geübtere die neuesten Stricktouren enthalten, Regensburg ca. 1835. Nur ein Beispiel von vielen aus Juliane Paukers Strick-Œuvre in der Deutschen Digitalen Bibliothek. Eine gute Gelegenheit, mal die "Personensuche" im Portal anzuschmeißen und sich was Schönes rauszusuchen.

Wolle, Marianna: Sammlung der neuesten, schönsten und elegantesten Touren zu Strümpfen und Spitzenmuster. Ein unentbehrliches Handbüchlein für die strickende Welt, Nürnberg 1842.

Viel Spaß und viel Erfolg beim Stricken!
 

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