Knowledge without a future? The legal framework of digital long-term archiving of internet publications - an article by Eric W. Steinhauer
The first publication of the Deutsche Digitale Bibliothek “A Future for the Past – Cultural Heritage in the Digital World” (“Der Vergangenheit eine Zukunft – Kulturelles Erbe in der digitalen Welt”) appeared in March 2015. With articles from various specialist authors, this anthology, edited by Paul Klimpel and Ellen Euler, deals with the tasks and general conditions faced by memory institutions such as museums, libraries and archives in the digitalisation of the cultural heritage.
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Wissen ohne Zukunft? Der Rechtsrahmen der digitalen Langzeitarchivierung von Netzpublikationen
- Eric W. Steinhauer
1. Einstieg: Informationsgesellschaft
Wir leben in einer Wissens- und Informationsgesellschaft. Im Einzelnen sind diese beiden schlagwortartigen Begriffe zwar unscharf und strittig.[1] Einigkeit besteht jedoch darin, dass ein als Wissens- und Informationsgesellschaft bezeichnetes Gemeinwesen durch die Allgegenwart digitaler Kommunikation geprägt ist. Hier kommt dem Internet eine wichtige Rolle zu. Es ist sicher nicht übertrieben, das Internet als den zentralen Wahrnehmungs- und Kommunikationsraum der Gegenwart zu verstehen. Dabei liegt die Stärke und Faszination des Internet in der Vernetzung von Inhalten. Wir können dies besonders gut in den sozialen Netzwerken beobachten, in denen Inhalte aus unterschiedlichen Quellen zueinander in Beziehung gesetzt und miteinander geteilt werden. Die Kommunikation bezieht sich auf diese Inhalte und ist auf sie angewiesen.
2. Gedächtnis
Damit ist so etwas wie ein digitales Gedächtnis angesprochen. Dieses Gedächtnis funktioniert erstaunlich gut. Dank des mobilen Internet können wir jederzeit und von jedem Ort aus auf einen immensen Fundus an Informationen zugreifen. Der Grad der Informiertheit, den wir dadurch erreichen, ist kaum noch zu übertreffen. Allerdings – und hier beginnen die Probleme – ist das Internet, vor allem aber diese Art der intensiven Kommunikation noch recht jung. Wenn wir hier von „Gedächtnis“ sprechen, so ist damit ein kommunikatives oder ein Funktionsgedächtnis gemeint: Es speichert und erinnert Sachverhalte einer lebendig erlebten Gegenwart.[2]
In den Memory Studies, einem wichtigen Teilgebiet der Kulturwissenschaften,[3] wird dieses Gedächtnis vor allem mit der mündlichen Überlieferung durch Erzählen und Berichten in Verbindung gebracht. Dabei reicht das kommunikative Gedächtnis soweit zurück wie die Erinnerung noch lebender Menschen, also maximal 100 Jahre. Alles, was darüber hinausgeht, ist entweder mythisch oder vergessen oder im kulturellen Gedächtnis als einem Speichergedächtnis enthalten.[4] Dieses kulturelle Gedächtnis findet seinen Niederschlag in relativ dauerhaften Zeugnissen der Kultur, hier vor allem in lesbaren Medien, an erster Stelle in Büchern und anderen gedruckten Materialien.
Wir sind auf dieses Speichergedächtnis zwingend angewiesen, wenn wir uns auf Sachverhalte außerhalb des zeitlichen Erfahrungshorizontes lebender Personen beziehen wollen.[5] An dieser Stelle kann die große Bedeutung des Internet in der Wissens- und Informationsgesellschaft mit der Zeit zu einem ernsten Problem werden, wenn immer mehr Inhalte ausschließlich in digitaler Form kommuniziert und gespeichert werden. Digitale Inhalte – kurz Digitalia – haben nämlich die unangenehme Eigenschaft, der sinnlichen Wahrnehmung nicht unmittelbar zugänglich zu sein. Sie müssen durch Software interpretiert und lesbar gemacht werden. Soll dieser Vorgang über lange Zeiträume funktionieren, ist Vorsorge für die Stabilität von Formaten zu treffen oder eine Überführung in neue Formate notwendig. Doch damit nicht genug. Digitalia sind darüber hinaus auch noch hochfragil, da sie entweder unkörperlich und damit flüchtig in Netzen kursieren oder auf Datenträgern aufbewahrt werden, die nach dem gegenwärtigen Stand der Technik eine generationenübergreifende Haltbarkeit, die der von Papier entspricht, nicht besitzen.[6] Digitalia müssen daher in regelmäßigen Abständen auf neue Datenträger umgeschrieben werden.
Formatänderungen und Datenträgerwechsel sind technisch komplexe Vorgänge. Sie stehen bei der Frage der digitalen Langzeitarchivierung meist im Vordergrund.[7] Technische Aspekte sind aber nur eine Seite des digitalen Gedächtnisses.
3. Urheberrecht
Die andere Seite, die wir uns jetzt näher ansehen wollen, ist eine juristische.[8] Soweit nämlich die betroffenen Digitalia persönliche geistige Schöpfungen sind, was meist der Fall sein wird, unterfallen sie als Werke im Sinne von § 2 Urheberrechtsgesetz (UrhG) dem Urheberrecht, und ihre Vervielfältigung hat bestimmte rechtliche Vorgaben zu beachten. Da sowohl das für die digitale Langzeitarchivierung unverzichtbare Umkopieren als auch mögliche Formatänderungen Vervielfältigungen darstellen, liegt die gar nicht zu überschätzende Relevanz des Urheberrechts für diese Vorgänge auf der Hand. Und hier stellt sich die Lage – in grober Skizze – wie folgt dar:
Jede Vervielfältigung eines urheberrechtlich geschützten Werkes greift in das Verwertungsrecht des Urhebers aus § 16 UrhG beziehungsweise in entsprechende Nutzungsrechte von Rechteinhabern ein. Wenn der Urheber beziehungsweise die Rechteinhaber die für die Langzeitarchivierung erforderlichen Vervielfältigungen – sei es in Form von Nutzungsrechten, sei es in sonstiger Form – gestatten, ergeben sich keine Probleme. Die Vervielfältigung ist rechtmäßig.
Kommt es aber zu keiner Verständigung über die Zulässigkeit von Vervielfältigungen, können Maßnahmen der Langzeitarchivierung nur auf Grundlage urheberrechtlicher Schrankenbestimmungen vorgenommen werden.
Dabei kann § 44a UrhG als möglicherweise einschlägige Schrankenbestimmung sogleich ausgeschlossen werden, da diese Norm nur vorübergehende und eben keine auf langfristige Bewahrung angelegte Kopien gestattet,[9] mag die Formulierung im Gesetz, dass eine zulässige Vervielfältigung „Teil eines technischen Verfahrens“ ist, auf den ersten Blick für das im Wesentlichen technische Problem der digitalen Langzeitarchivierung auch verlockend einschlägig erscheinen.
3.1 Digitale Langzeitarchivierung nach § 53 UrhG
Bleibt also im Wesentlichen nur der labyrinthische § 53 UrhG übrig, um Vervielfältigungen im Rahmen der digitalen Langzeitarchivierung zu rechtfertigen.
Danach ist eine digitale Privatkopie nach § 53 Abs. 1 gestattet, sofern sie nicht von einer offensichtlich rechtswidrigen Vorlage angefertigt wird. Ebenfalls zulässig sind nach § 53 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 UrhG entsprechende Vervielfältigungen für den eigenen wissenschaftlichen Gebrauch, wobei hier näher zu begründen wäre, warum der eigene wissenschaftliche Gebrauch gerade eine auf mehrere Generationen angelegte und damit die eigene Lebenszeit des Schrankenbegünstigten wohl übersteigende Langzeitarchivierung erfordert, können Tote doch schwerlich einen eigenen wissenschaftlichen Gebrauch für sich reklamieren. Selbst wenn man sich hier auf den Gebrauch einer Institution bezieht, was durchaus noch als „eigener wissenschaftlicher Gebrauch“ gewertet wird,[10] so stellt sich schon die Frage, ob Kopien, die im Vorfeld des Gebrauchs an sich liegen, von der Schranke überhaupt erfasst sind oder ob nicht die Kopie selbst dem unmittelbaren Gebrauch dienen muss. Vor dem Hintergrund der regelmäßig geforderten engen Schrankenauslegung ist diese Frage keineswegs haarspalterisch, sondern leider nur allzu berechtigt.[11]
Interessanter ist da schon die Erlaubnis in § 53 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 UrhG, eine Vervielfältigung zur Aufnahme in ein eigenes Archiv herzustellen, denn der Aufbau eines Archivs ist doch genau das, was wir wollen, wenn wir über digitale Langzeitarchivierung reden. Allerdings liegt hier die Tücke im Detail. So muss die Vorlage für die Archivkopie zunächst ein „eigenes Werkstück“ sein. Über das Problem, inwieweit unkörperliche Medienwerke, die ja den Großteil der Digitalia mittlerweile ausmachen, dem Schrankenbegünstigten „eigen“ und inwieweit diese wenig handfesten Geisteswerke „Stücke“ sein können, will ich nicht weiter sinnieren, denn die Archivkopie hat einige unangenehme Beschränkungen zu beachten, die in § 53 Abs. 2 Satz 2 UrhG enthalten und für unsere Fragestellung erheblich interessanter sind.
So darf nach Nr. 1 und 2 von Satz 2 – hier spätestens ist übrigens Gelegenheit, den kunstvoll verschränkten Aufbau von § 53 UrhG zu bewundern – nach Nr. 1 und 2 also darf die Vervielfältigung selbst oder ihre Nutzung bloß in analoger Form erfolgen, was für die digitale Langzeitarchivierung schlicht sinnlos ist. Allerdings gilt diese Beschränkung nicht für Archive, die im öffentlichen Interesse tätig sind und keine wirtschaftlichen oder Erwerbszwecke verfolgen. Diesen Einrichtungen ist auch die digitale Kopie zur Aufnahme in ein eigenes Archiv gestattet.[12] Halten wir hier kurz inne. Die digitale Langzeitarchivierung scheint zwar nicht im Fokus des Gesetzgebers zu stehen, ist aber Einrichtungen gestattet, die im öffentlichen Interesse tätig werden. So jedenfalls kann man die Archivschranke in § 53 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 UrhG verstehen und damit der Ansicht sein, dass immerhin Bibliotheken und Archive, mithin öffentliche Gedächtnisinstitutionen aus urheberrechtlichen Gründen nicht gehindert sind, Maßnahmen der digitalen Langzeitarchivierung durchzuführen.
Diese Ansicht freilich ist etwas schlicht. Bei der Frage der digitalen Langzeitarchivierung geht es doch um den Aufbau eines digitalen Speichergedächtnisses, das in seiner Dauerhaftigkeit den gedruckten Büchern als den wohl wichtigsten Medien des überkommenen kulturellen Gedächtnisses entsprechen soll. Auch wenn man von der leidigen Formatfrage einmal absieht, die Haltbarkeit von Datenträgern gestattet es nicht, es mit einer einzigen Archivkopie für die Dauer des Urheberrechts an dem betreffenden Werk bewenden zu lassen. Um eine zuverlässige Speicherung zu gewährleisten, ist vielmehr die regelmäßige Migration auf einen neuen Datenträger nötig. Die Archivschranke aber gestattet nur Vervielfältigungen zur Aufnahme in ein Archiv; Kopien im Archiv selbst sind nicht im Fokus der Norm. Ob hier eine Auslegung der Schrankenbestimmung helfen kann, ist zweifelhaft.[13] Wenn man nämlich schon in § 44a UrhG für Vervielfältigungen ohne eigenständige wirtschaftliche Bedeutung – der Gesetzgeber spricht sogar selbst davon! – eine eigene Schrankenbestimmung zu erlassen für notwendig hielt, dann sollte man sich über die Möglichkeiten einer erweiternden Auslegung von Schrankenbestimmungen keine allzu großen Illusionen machen. Die jüngsten Gerichtsverfahren gegen Hochschulen wegen §§ 52a und 52b UrhG zeigen zudem, welche komischen, den Erfordernissen einer digital arbeitenden Wissenschaft nicht unbedingt entgegenkommenden Auslegungen Schrankenbestimmung durch Gerichte erfahren können.[14] Hält man sich dies vor Augen, ist man nicht gut beraten, auf dem sandigen Fundament der Archivschranke eine kostspielige Infrastruktur für die digitale Langzeitarchivierung aufzubauen. Unklares Recht ist hier ein ernstes Investitions- und Planungsrisiko!
Indes, das Recht ist nicht in allen Punkten unklar. Klar und deutlich etwa drückt sich der Gesetzgeber in § 53 Abs. 5 UrhG aus. Danach ist eine Archivkopie von Datenbankwerken unzulässig; sie wird lediglich für den eigenen wissenschaftlichen Gebrauch sowie den Unterrichtsgebrauch unter Einschränkungen gestattet. Für Digitalia im Internet, die in Form von Datenbankwerken nicht unbedingt selten auftreten, ist das eine ziemlich klare, aber keine gute Aussage. Sekundiert wird dieses wenig erfreuliche Ergebnis von § 87c Abs. 1 UrhG, der auch für einfache Datenbanken eine Archivkopie nicht kennt, dafür freilich die Privatkopie sowie – hier § 53 Abs. 5 UrhG entsprechend – Vervielfältigungen für den wissenschaftlichen und den Unterrichtsgebrauch.
Als raffinierter Höhepunkt der klaren Aussagen des Gesetzgebers dürfen die technischen Schutzmaßnahmen nicht vergessen werden. Soweit es um Digitalia geht, die in Netzen kursieren, besteht von Rechts wegen keine Möglichkeit, technische Schutzmaßnahmen für Vervielfältigungen aufzuheben (§ 95b Abs. 3 UrhG).[15] Eine legale digitale Langzeitarchivierung allein auf Grundlage urheberrechtlicher Schrankenbestimmungen ist hier vollkommen ausgeschlossen.[16] Soweit zu den Möglichkeiten, die das Urheberrecht zur Langzeitarchivierung von Digitalia eröffnet. Diese Möglichkeiten reichen aber nicht aus. Außerhalb vertraglicher Vereinbarungen mit den Urhebern beziehungsweise Rechteinhabern ist eine rechtlich saubere digitale Langzeitarchivierung im Rahmen der derzeitigen urheberrechtlichen Schranken nicht möglich.
Auf eine Schrankenlösung wird man nicht verzichten können, da insbesondere Netzinhalte oft kollaborativ und ohne eindeutige Klärung juristischer Fragen erstellt werden. Es ist in diesen Fällen oft nicht möglich, einen Ansprechpartner zur Einholung aller für die Langzeitarchivierung erforderlichen Rechte ausfindig zu machen.[17] Überdies erscheint es angesichts der Masse an relevanten Digitalia wenig sachgerecht, neben den ohnehin schon hohen technischen Aufwand der Langzeitarchivierung noch einen bürokratischen Aufwand zur Klärung rechtlicher Fragen zu stellen.
3.2 Sammeln und Vermitteln
Wenn wir über die urheberrechtlichen Probleme beim Aufbau eines kulturellen Speichergedächtnisses für Digitalia sprechen, dann können wir nicht bei der Frage der Langzeitarchivierung stehen bleiben. Ein Speicher nämlich will gefüllt und will genutzt sein. Bibliothekare sprechen hier in ihren einfachen Worten von Sammeln und Vermitteln.[18]
3.2.1 Sammeln
Digitalia sammelt man nicht einfach so wie Bücher, es sei denn, sie sind, was immer weniger der Fall ist, auf körperlichen Datenträgern, CD-ROMs etwa, verfügbar. Digitalia sammelt man, indem man sie auf eigene Speichermedien kopiert, also vervielfältigt. Solche Vervielfältigungen sind legal, wenn sie auf Grundlage einer Lizenzvereinbarung erfolgen. Allerdings ist nur ein Bruchteil des für das digitale kulturelle Gedächtnis relevanten Materials auf diese Weise verfügbar, etwa weil es von Verwertern entsprechend vermarktet oder auf Grundlage diverser Open-Source-Lizenzen im Internet bereitgestellt wird.[19] Gerade frei zugängliche Internetquellen stehen oft unter keiner Lizenzbestimmung. Was tun?
Der Blick auf die urheberrechtlichen Schranken kann kurz gehalten werden. Abgesehen vom privaten oder eigenen wissenschaftlichen Gebrauch, beides Möglichkeiten, die für die klassischen Gedächtnisinstitutionen wie Archive oder Bibliotheken nicht in Betracht kommen, ist das Sammeln von Digitalia aus dem Internet auf Grundlage urheberrechtlicher Schrankenbestimmung nicht möglich. Die schon erwähnte Archivschranke scheidet hier aus, weil das Ergebnis der Schrankennutzung die Voraussetzung ihrer Anwendung ist, nämlich das eigene Werkstück als allein zulässige Kopiervorlage.
Trotz dieser sehr misslichen urheberrechtlichen Situation hat der Gesetzgeber mit dem „Gesetz über die Deutsche Nationalbibliothek“ (DNBG) im Jahre 2006 dieser Bibliothek die Aufgabe zugewiesen, auch Digitalia als Kulturgut für die Nachwelt zu sichern, also ein digitales kulturelles Gedächtnis anzulegen.[20] Dabei stellte sich der Gesetzgeber ausweislich der Gesetzgebungsmaterialien sogar vor, dass die Deutsche Nationalbibliothek in regelmäßigen Abständen gewissermaßen Sicherungskopien des gesamten deutschsprachigen Internet im Wege des Web-Harvesting erstellt.[21] Das aber ist schlicht illegal.[22] Das Urheberrechtsgesetz enthält keine entsprechende Schranke.[23] Und auch das Nationalbibliotheksgesetz selbst regelt diesen Sachverhalt nicht, obwohl es den Sammelauftrag der Nationalbibliothek explizit auf unkörperliche Medienwerke und damit Digitalia in Netzen erweitert hat. Ansonsten aber ist das Gesetz stockkonservativ. Ganz das sachenrechtlich geprägte Leitbild des traditionellen Pflichtexemplarrechts fortschreibend, müssen nach dem DNBG nicht nur Bücher und Datenträger, sondern auch Netzpublikationen abgeliefert werden. Ähnlich „fortschrittliche“ Bestimmungen enthalten die Pflichtexemplarvorschriften der Länder Baden-Württemberg[24], Hamburg[25], Thüringen[26] und Sachsen-Anhalt[27].
Eine spannende Frage ist hier übrigens, ob man bei der Ablieferung der Digitalia eine schlüssig erklärte Nutzungsrechtseinräumung für die schon angesprochenen Maßnahmen der Langzeitarchivierung annehmen kann. Einige Stimmen in der Literatur bejahen dies, wohl aus Barmherzigkeit, damit die entsprechenden gesetzlichen Vorschriften nicht völlig sinnlos sind.[28] Im Eindruck dieser Diskussion haben die jüngst novellierten Pflichtexemplarvorschriften in Hessen, Nordrhein-Westfalen und im Freistaat Sachsen die Frage der Nutzungsrechte bei Netzpublikationen daher direkt aufgegriffen. Nach § 4a Abs. 3 Satz 3 Hessisches Bibliotheksgesetz müssen die zu sammelnden Medienwerke, zu denen jetzt auch Netzpublikationen gehören, „ohne rechtliche […] Beschränkungen“ nutzbar sein, was entsprechende Nutzungsrechte der Bibliothek, die bei der Ablieferung schlüssig eingeräumt werden, voraussetzt. Kommt ein Ablieferungspflichtiger seiner Verpflichtung zur Ablieferung nicht nach, so greift nach § 4a Abs. 3 Satz 7 Hessisches Bibliotheksgesetz sogar ein gesetzliches Nutzungsrecht, das einen verwaltungsvollstreckungsrechtlichen Charakter hat.[29] Der nordrhein-westfälische Gesetzgeber spricht in § 4 Abs. 5 Satz 1 des neu gefassten Pflichtexemplargesetzes das Thema Nutzungsrechte bei Netzpublikationen explizit an: „Mit der Ablieferung eines Medienwerkes auf einem elektronischen Datenträger oder eines Medienwerkes in unkörperlicher Form erhält die Bibliothek das Recht, das Werk zu speichern, zu vervielfältigen und zu verändern oder diese Handlungen in ihrem Auftrag vornehmen zu lassen, soweit dies notwendig ist, um das Medienwerk in die Sammlung aufnehmen, erschließen und für die Benutzung bereitstellen zu können sowie seine Erhaltung und Benutzbarkeit dauerhaft zu sichern.“ Eine eigene Sammlungsbefugnis der Bibliothek bei Säumigkeit der Ablieferung ist in Nordrhein-Westfalen im Gegensatz zu Hessen nicht explizit vorgesehen.
In Sachsen erhält die Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek (SLUB) Dresden nach § 11 Abs. 9 des Sächsischen Gesetzes über die Presse (SächsPresseG) mit der Ablieferung eines Pflichtexemplars das Recht, dieses „zu speichern, zu vervielfältigen und zu verändern […] soweit dies notwendig ist, um die Publikation in ihren Bestand aufnehmen, erschließen und für die Benutzung bereitstellen zu können sowie ihre Erhaltung und Benutzbarkeit dauerhaft zu sichern.“[30] Weiterhin darf die SLUB Dresden das Pflichtexemplar nach § 11 Abs. 10 SächsPresseG „in ihren Räumen zugänglich […] machen“, sofern „ausreichende Vorkehrungen gegen eine unzulässige Vervielfältigung, Veränderung oder Verbreitung“ getroffen werden. Ob die Bibliothek von sich aus nicht abgelieferte Inhalte einsammeln kann, erscheint fraglich, wenngleich sie nach § 11 Abs. 11 SächsPresseG berechtigt ist, sich nach erfolgloser Mahnung eine nicht abgelieferte Publikation anderweitig zu verschaffen. Nach § 11 Abs. 3 SächsPresseG gilt dies ausdrücklich auch für die digitalen Pflichtexemplare.
Derzeit wird in Rheinland-Pfalz ein neu zu erlassendes Bibliotheksgesetz beraten.[31] Nach hessischem Vorbild soll dieses Gesetz auch die um einen Sammelauftrag für Netzpublikationen erweiterten Pflichtexemplarbestimmungen enthalten, die gegenwärtig im Landesmediengesetz zu finden sind. In § 3 Abs. 7 und 8 des geplanten Bibliotheksgesetzes sind ausdrückliche Nutzungsrechte für die Langzeitarchivierung und die Nutzung in den Räumen der Pflichtexemplarbibliothek vorgesehen.
Halten wir hier kurz fest: Pflichtexemplarbibliotheken dürfen, sofern eine gesetzliche Grundlage besteht, Digitalia institutionell sammeln, wenn und soweit sie abgeliefert werden. Daneben dürfen sich auch Privatpersonen und Wissenschaftler kleine Sammlungen anlegen.
3.2.2 Vermitteln
Neben der Langzeitarchivierung und dem Sammeln ist schließlich noch das Vermitteln als dritte wichtige Säule des digitalen kulturellen Speichergedächtnisses zu beleuchten. Dass hier vertraglich alles geregelt werden kann, ist trivial. Im Schrankenbereich indes gilt es, eine Bestimmung zu finden, die eine Nutzung der im kulturellen digitalen Gedächtnis niedergelegten Inhalte durch jedermann erlaubt. Die soeben kurz erwähnten kleinen Sammlungen von Wissenschaftlern und Privatpersonen scheiden sofort aus, weil § 53 Abs. 6 UrhG eine Öffnung dieser Sammlungen an außenstehende Dritte untersagt. Für Bibliotheken und Archive im Prinzip interessant hingegen ist § 52b UrhG. Danach darf man sich das digitale kulturelle Speichergedächtnis im Stile einer Mikroformsammlungen an Bildschirmen in ausgewählten Pflichtexemplarbibliotheken ansehen und sich von den multimedialen Inhalten eigene Exzerpte machen, vielleicht ein paar Screens abfotografieren oder den Bildschirm auf den Kopierer legen. Für diese komfortable Form der Nutzung, die auch das Ergebnis der Rechtsprechung unserer Zeit ist,[32] ist freilich eine angemessene Vergütung abzuführen. Wobei hier durchaus die Frage aufgeworfen werden kann, ob diese Vergütungspflicht für Pflichtexemplarbibliotheken im Rahmen ihres Sammelauftrages überhaupt angemessen ist, denn immerhin investieren diese Einrichtungen eine Menge Geld in den Erhalt von Digitalia für die Nachwelt.[33]
Das Problem freilich ist nur ein theoretisches. Von sich aus dürfen Pflichtexemplarbibliotheken, wie wir festgestellt haben, ja gar nichts sammeln.[34] Und was sie abgeliefert bekommen, ist konkludent entsprechend lizenziert, sodass hier eine vertragliche Vereinbarung der Anwendung von § 52b UrhG entgegensteht. Anders gesagt, das Wenige, das gesammelt wird, darf man auch der Öffentlichkeit vermitteln, jedenfalls am stationären Leseplatz im Haus.
4. Urheberrechtliches Fazit
Dieser Beitrag trägt den Titel: Wissen ohne Zukunft? Nachdem wir uns die urheberrechtliche Seite der Langzeitarchivierung angesehen haben, kann man sagen, dass man sich um die Zukunft unserer Digitalia im kulturellen Speichergedächtnis durchaus Sorgen machen muss.
Im Gegensatz zur analogen Welt der gedruckten Bücher etwa unterfallen im digitalen Bereich alle für den Aufbau, die Pflege und die Nutzung des digitalen Gedächtnisses relevanten Handlungen dem Urheberrecht. Es fehlt an einer dem Sachenrecht entsprechenden eigenen Rechtsposition („Eigentum am bedruckten Papier“) von Gedächtnisinstitutionen wie Bibliotheken oder Archiven. Vertragliche Vereinbarungen sind angesichts der Masse des relevanten Materials keine Lösung. Die vorhandenen urheberrechtlichen Schranken bieten ebenfalls keine geeignete Grundlage für die digitale Langzeitarchivierung. Hier ist der Gesetzgeber gefragt.
Beim Erlass des Nationalbibliotheksgesetzes war dem Gesetzgeber die Ausweitung des Sammel- und Sicherungsauftrages der Bibliothek auch auf Digitalia wichtig. Flankiert werden sollten solche Regelungen aber unbedingt durch entsprechende Vorschriften im UrhG. Die bereits erwähnten Vorschriften im Pflichtexemplarrecht der Länder Hessen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen, die Nutzungsrechte ausdrücklich fordern beziehungsweise berücksichtigen, sind hier im Ergebnis eine zwar noch zulässige[35], aber verfassungsrechtlich bereits beargwöhnte[36] „Notwehr“ der Landesgesetzgebung gegen die Untätigkeit des Bundesgesetzgebers. Es ist an der Zeit, dass die für Gedächtnisinstitutionen in vielen Fällen derzeit bestehende „Rechtspflicht zur Amnesie“ im digitalen Bereich durch eine sachgerechte Novellierung des Urheberrechtsgesetzes endlich beendet wird.
Um möglichen Gegenstimmen, die sogleich an das enge europäische Korsett im Urheberrecht erinnern werden,[37] zu begegnen: Es gibt bereits auf europäischer Ebene ein überaus interessantes und für unsere Fragestellung einschlägiges Dokument. Es handelt sich um die „Empfehlung der Kommission zur Digitalisierung und Online-Zugänglichkeit kulturellen Materials und dessen digitaler Bewahrung“ (K(2011) 7579 endg.) vom 27. Oktober 2011. Darin empfiehlt die Kommission „die ausdrückliche und eindeutige Verankerung von Bestimmungen in ihren Rechtsordnungen, die ein mehrfaches Kopieren und Konvertieren digitalen kulturellen Materials durch öffentliche Einrichtungen zum Zwecke der Bewahrung erlauben“, sowie „die Schaffung der erforderlichen Regelungen für die Pflichtexemplarhinterlegung in digitaler Form“. Zu den notwendigen Pflichtexemplarvorschriften rechnet die Kommission auch die Gestattung von Web-Harvesting und des gegenseitiges Austausches von Digitalia zwischen Pflichtexemplarbibliotheken, sofern diese einen eigenen gesetzlichen Sammelanspruch haben.
Dass die Empfehlungen der Kommission bereits im geltenden Richtlinienrahmen der Europäischen Union umsetzbar sind, zeigt das Beispiel des Österreichischen Mediengesetzes. In Österreich, das genauso wie Deutschland bestehende europäische Vorgaben im Urheberrecht beachten muss, gibt es in §§ 43 Buchstabe b) bis d) des Österreichischen Mediengesetzes bereits ein recht differenziertes Regelwerk,[38] das sich der deutsche Gesetzgeber als Beispiel nehmen könnte.[39]
5. Exkurs: Digitale Langzeitarchivierung - ein schillernder Begriff
Das Ergebnis der urheberrechtlichen Bestandsaufnahme ist, um es mit einem Wort zu sagen, katastrophal. Da verwundert es doch, wenn man in Plenardebatten des Deutschen Bundestages Sätze wie diese hier hört: „Das Urheberrecht ermöglicht bereits heute die Langzeitdigitalisierung, zum Beispiel durch Archive und Museen. Hier müssen wir nicht gegen irgendwelche Defizite kämpfen.“[40] Will man nicht gleich in billige Politikerschelte verfallen, sollte man genauer hinsehen, was hier eigentlich gemeint ist. Hier geht es nämlich nicht um die Frage der Bestanderhaltung von digitalen Inhalten, sondern um die Bestandserhaltung von analogen Inhalten durch Digitalisierung. Digitale Langzeitarchivierung meint hier also nicht die Langzeitarchivierung von Digitalia, sondern mithilfe von Digitalia. Das urheberrechtliche Problem, um das es in diesem Kontext geht, ist das der Digitalisierungbefugnis.
Anders gefragt: Darf ich urheberrechtliche geschützte Werke digitalisieren, um die analogen Originale zu schonen? Die Antwort auf diese Frage fällt, und da stimmt die gerade zitierte Aussage, gar nicht so negativ aus. So dürfen etwa Gedächtnisinstitutionen auf Grundlage der Archivschranke in § 53 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 UrhG ihren gesamten Bestand digitalisieren und im Rahmen von § 52b UrhG auch in dieser Form zur Nutzung bereit stellen.[41] Weiterhin erlauben die neuen Regelungen über verwaiste Werke nicht nur deren Digitalisierung, sondern auch deren öffentliche Zugänglichmachung im Internet.[42] Lediglich die Frage, ob die einmal erstellten Digitalisate selbst dauerhaft erhalten werden dürfen, könnte problematisch sein. Bei § 53 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 UrhG bereiten die dafür notwendigen Vervielfältigungen im Archiv Schwierigkeiten, davon war schon die Rede. Bei den digitalisierten verwaisten Werken aber gestattet die im Gesetz vorgesehene Vervielfältigungsbefugnis auch die für die Langzeitarchivierung notwendigen Maßnahmen. Das ergibt sich eindeutig aus Art. 6 Abs. 1 Buchstabe b) der Richtlinie 2012/28/EU über bestimmte zulässige Formen der Nutzung verwaister Werke,[43] wonach Vervielfältigungen zum Zweck der „Bewahrung“ ausdrücklich gestattet sind. In diesem Sinne wird daher auch der neue § 61 UrhG auszulegen sein.
Wenn also in der Politik von digitaler Langzeitarchivierung die Rede ist, sollte ganz genau unterschieden werden, um welchen Sachverhalt es sich handelt.[44] Geht es um Bestandsdigitalisierung, dann sind die Rechtsgrundlagen durchaus tragfähig. Geht es hingegen um die Sammlung, Bewahrung und Vermittlung von Netzpublikationen, ist nahezu alles problematisch und eine rechtssichere digitale Langzeitarchivierung ebenso unmöglich wie der nachhaltige Aufbau und die Nutzung eines digitalen kulturellen Gedächtnisses.[45]
6. Weitere rechtliche Probleme
Das Urheberrecht stellt also eine der größten Herausforderungen im Bereich des digitalen kulturellen Gedächtnisses dar. Aber selbst wenn wir hier eine im Ergebnis zufriedenstellende Lösung für die Gedächtnisinstitutionen in einem „Gedächtnis-Korb“ bekommen sollten,[46] die rechtlichen Probleme des digitalen kulturellen Speichergedächtnis sind damit bei Weitem noch nicht gelöst. Ich möchte beispielhaft auf drei Bereiche eingehen, die sich beim Aufbau eines nachhaltigen digitalen kulturellen Gedächtnisses als problemträchtig erweisen.
6.1 Netzwerke des Sammelns
Zunächst werden für das digitale kulturelle Gedächtnis, wenn man das soeben zitierte Kommissionsdokument betrachtet, ausschließlich bestimmte Institutionen als zuständig erachtet, vor allem Bibliotheken und Archive. Diese Sichtweise ist nicht unproblematisch. Träger des kulturellen Speichergedächtnisses sind neben diesen Einrichtungen, die unbestritten wichtig sind, eine Fülle weiterer Akteure. Beispielhaft möchte ich hier private Sammler nennen. Neben dem großen Fundus an Kulturgütern in öffentlichen Institutionen existiert ein vielleicht noch größerer, jedenfalls vielfältigerer Schatz in privaten Sammlungen. Beide Bereiche sind aufeinander bezogen.[47] Man denke nur an den Antiquariatsbuchhandel. Bibliotheken können zudem zerstört werden. Die Vielzahl von Sammlungen ermöglicht in einem solchen Fall eine weitgehend lückenlose Überlieferung von Kulturgütern. Oft sind es private Sammler, die wichtige Kollektionen für das kulturelle Gedächtnis erst zu einer für eine öffentliche Einrichtung interessanten Form zusammenstellen. Keine Gedächtnisinstitution würde Briefkastenwerbung von Edeka archivieren. Aber wenn ein Sammler einem Wirtschaftsarchiv nun ein vollständiges Konvolut solcher Werbezettel aus der Zeit von 1965 bis 2000 anböte? Das wäre fast ein DFG-Projekt! Oder man denke an die vielen Privatarchive der sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre. Diese graue Literatur ist wertvoller Rohstoff für die Forschung und findet sich daher immer öfter in den Gedächtnisinstitutionen wieder. Gesammelt freilich haben andere.
Was aber ist im digitalen Bereich? Könnte ich eine mit Kennerschaft zusammengestellte Sammlung von Fotos und Texten aus dem Internet – alles legale Kopien für den wissenschaftlichen Eigengebrauch – einfach so einer Bibliothek übergeben? Und könnte die Bibliothek damit überhaupt etwas anfangen? Ich will diese Fragen nur anreißen. Wir kennen sie der Sache nach aus dem Verbraucherschutzrecht und dem Problem der fehlenden digitalen Erschöpfung, nach dem Motto: „Was kann ich mit meinen bei iTunes gekauften Musikstücken eigentlich machen?“ Das Problem besteht darin, dass im analogen Zeitalter jedermann, der am Kulturleben teilnimmt, einen substantiellen Beitrag zur Schaffung des kulturellen Speichergedächtnisses leisten kann und in sehr vielen Fällen auch geleistet hat. Im digitalen Bereich mit seiner ungleich größeren Vielfalt verengt sich der Fokus der Diskussion auf wenige institutionelle Akteure. Ich habe aus „sammlungsphilosophischen“ Gründen meine Zweifel, dass das sachgerecht ist.
6.2 Persönlichkeitsrechte
Kommen wir zu einem weiteren Problemfeld. Ein Buch eines süddeutschen Kleinverlegers, ein Artikel in der Zeitung und eine Meldung im Fernsehen zur Hauptsendezeit sind allesamt öffentliche Äußerungen, haben aber gleichwohl unterschiedliche Reichweiten. Das Buch nimmt wahrscheinlich niemand wahr, Presse und Fernsehen hingegen erreichen viele Menschen. Allerdings ist das Buch geduldiger und kann noch nach Jahren seine Leser finden, während Äußerungen in den Massenmedien schnell vergessen sind und von neuen Meldungen überlagert werden. Wenn es um Berichte über unvorteilhaftes persönliches Verhalten geht, Straftaten etwa, dumme Plagiate oder eine kleine Affäre, ist es gerade diese Vergesslichkeit der Massenmedien, die aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen eine Berichterstattung darüber ermöglicht. Das Bundesverfassungsgericht hat es in der berühmten Lebach-Entscheidung von 1973 daher für unzulässig gehalten, „dass die Kommunikationsmedien sich […] zeitlich unbeschränkt mit der Person eines Straftäters und seiner Privatsphäre befassen.“[48] Damals war das Fernsehen das Leitmedium.
Was gilt im Internetzeitalter, wenn Google mir über digital verfügbare Medienarchive zwanzig Jahre alte Skandale wie frische Meldungen serviert? Auch dies möchte ich als Frage stehen lassen, wenngleich der Europäische Gerichtshof mit seinem Google-Urteil vom 13. Mai 2014,[49] in dem er ein „Recht auf Vergessenwerden“ postuliert, sehr deutlich werden lässt, in welche Richtung sich die Diskussion künftig bewegen wird. Sie zeigt, dass im digitalen kulturellen Speichergedächtnis persönlichkeitsrechtliche Fragestellungen – durchaus auch postmortal – eine völlig neue Relevanz bekommen und in bestimmten Erinnerungsbereichen das im Vergleich zum Urheberrecht nicht unbedingt kleinere Problem darstellen werden.[50] Ganz neu sind solche Fragen übrigens nicht. In den 1970er und 1980er Jahren gab es eine intensive Abgrenzungsdebatte zwischen Datenschutz- und Archivrecht.[51] Auch damals ging es um die Alternative Persönlichkeitsrecht und Unverfälschtheit historischer Quellen.
6.3 Imperative des Vergessens
Der dritte Problemkreis, den ich ansprechen möchte, hängt eng mit dem Vorhergehenden zusammen, es geht um „Imperative des Vergessens“.
„Das Netz speichert zuviel, es soll auch wieder vergessen!“ Diese Forderung wird oft erhoben.[52] Tatsächlich könnte ein Urheber ein Werk einfach aus dem Internet löschen. Sofern er keine Nutzungsrechte eingeräumt hat, dürfen Dritte es dann nicht mehr zugänglich machen. Was aber, wenn das Werk bereits an die Deutsche Nationalbibliothek im Wege der Pflichtablieferung gelangt ist? Könnte jetzt der Urheber nach § 42 UrhG eine Löschung verlangen? Hier wird deutlich, wie anfällig für gezielte Manipulationen und Streichungen das digitale Gedächtnis im Vergleich zum gedruckten ist. Die Vielzahl von unveränderlichen Werkstücken und der Erschöpfungsgrundsatz verhindern hier einen Zugriff des Urhebers auf sein einmal publiziertes und verbreitetes Werk.
Neben dem Urheber, der sein Werk unterdrücken möchte, gibt es noch einen ungleich problematischeren Imperativ des Vergessens. Betrachtet man das Gesetz über die Deutsche Nationalbibliothek und politische Äußerungen zum digitalen Kulturerbe, dann ist man sehr irritiert, wenn man sich näher mit der Praxis des Depublizierens von Webseiten der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten beschäftigt. Diese Internetseiten dürfen sicher, schon wegen ihrer hohen Reichweite und der Seriosität ihrer Erstellung, als zeitgeschichtliche Zeugnisse ersten Ranges gelten. Gleichwohl schreibt der Rundfunkstaatsvertrag in §§ 11d und 11f für einen Großteil dieser Inhalte eine bloß befristete Verweildauer vor.[53] Danach werden die Seiten vom Netz genommen.
Und dann? Dann sind die Seiten weg. Die Deutsche Nationalbibliothek fühlt sich unter Verweis auf ihre Sammelrichtlinien nicht zuständig – man kann das durchaus anders sehen! – und die Rundfunkarchive, wo diese Inhalte möglicherweise noch zu finden sind, gleichen hermetischen Silos und haben keinen klaren Auftrag, ein digitales kulturelles Speichergedächtnis zu schaffen, das allen leicht zugänglich ist.
7. Viele Vorfragen sind ungeklärt
Die drei exemplarisch angerissenen Problemkreise zeigen: Im digitalen Gedächtnis sind noch viele Fragen offen. Die Probleme rühren nicht nur von der Unkörperlichkeit der Digitalia her, sondern auch von ihrer medialen Ununterscheidbarkeit. Was im analogen Bereich säuberlich getrennt war, ist nun unterschiedslos einfach ein Datenstrom. Im Internet konvergieren Publikation, Kommunikation, Information, Unterhaltung und Business zu einem schwer entwirrbaren Gemisch. In der analogen Welt ist es klar, dass wir Bücher sammeln, Werbeflyer eher nicht und Telefongespräche gar nicht. Im Internet ist das nicht mehr klar. Neben einer angemessenen Rechtsordnung für das digitale kulturelle Gedächtnis brauchen wir auch dessen medien- und kulturwissenschaftliche Theorie.[54] Was soll dieses Gedächtnis eigentlich ausmachen? Und wenn wir es anlegen, sollten wir es vielleicht nur gestuft zugänglich machen? Persönliches nach 100 Jahren, Publiziertes sofort?
Erst wenn diese Fragen gelöst und in ein stimmiges Konzept gebracht sind, kann der Gesetzgeber ein sinnvolles Rechtsregime für Digitalia aufbauen. Am Rande sei erwähnt, dass dabei auch die Rolle der Digitalisate, also der digitalisierten analogen Kulturgüter, zu bedenken ist, denn bei aller Unsicherheit bei der Bewahrung von Digitalia werden paradoxerweise Unmengen analoger Kulturgüter digitalisiert, auch und gerade um sie der Nachwelt zu erhalten.[55] Ein weites Feld. Wir lassen es liegen und kommen zum Schluss.
8. Ausblick
Der Ausblick auf die Zukunft des digitalen kulturellen Speichergedächtnisses ist ausgesprochen düster, allerdings sind in Gestalt der Initiative der Europäischen Kommission freundliche Aufheiterungen am Horizont sichtbar. Auch die Digitale Agenda der Bundesregierung gibt zu vorsichtigem Optimismus Anlass.[56] Desungeachtet bleibt die Aufgabe bestehen, ein stimmiges Rechtsregime für alle Fragen des digitalen kulturellen Speichergedächtnisses zu entwickeln. Das ist eine große Aufgabe. Konzertierte Bemühungen in diesem Bereich sehe ich derzeit aber nicht.
Speziell für das Urheberrecht liegt hier die in mittlerer Zukunft wohl wichtigste Bewährungsprobe. Dabei wird es nicht nur darum gehen, ob Digitalia echte, den alten Medien ebenbürtige Kulturgüter oder bloß mediale Wegwerfkonserven sind. Entscheidender wird der Einfluss des Urheberrechts auf das kulturelle Speichergedächtnis sein. Sollte es sich in einer Generation herausstellen, dass vor allem das gegenwärtig stark urheber- und verwerterzentrierte Recht des geistigen Eigentums den Aufbau nachhaltiger Speicher- und Sammelstrukturen verhindert hat, wird dies eine Debatte auslösen, die an Heftigkeit die gegenwärtigen Diskussionen um angemessene Nutzer- und Wissenschaftsrechte im Urheberrecht weit übertreffen wird. Zerstörte Gedächtnisspuren lösen stärkste Emotionen aus. Man denke nur an den Weimarer Bibliotheksbrand oder den Einsturz des Kölner Stadtarchivs. Wir betreten dann einen anthropologischen Resonanzboden, der das Urheberrecht in der Form, in der wir es kennen, nicht nur zum Wanken, sondern zum totalen Einsturz bringen könnte. Ob hier der archimedische Punkt der neuen Urheberrechtsordnung liegt, nach dem alle suchen? Wer weiß?
Eines aber ist sicher, die Rechtsfragen des digitalen kulturellen Gedächtnisses sind vielfältig, bunt und spannend und zudem wissenschaftlich hoch ergiebig. Man sollte, auch und gerade in der Kulturpolitik, mehr daraus machen.[57]
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About the Author
Eric W. Steinhauer (born 1971 in Unna) studied Law, Catholic Theology and Philosophy in Munster, and Political Science and Education in Hagen. Following his state law examination he was a trainee academic librarian at the University of Freiburg. His dissertation deals with the academic freedom of Catholic theologians. Since 2003 he has worked in various roles at university libraries and has been Department Head for Media Processing at the university library of the distance-learning university Fernuniversität Hagen since 2009. He has several teaching functions, including at the Humboldt-University of Berlin and the University of Wuppertal, is the author of numerous specialist publications and has taken part in several library-related law-making procedures at regional level as an expert. In the network of excellence nestor he has been concerned with questions of long-term archiving. He takes a particular professional interest in libraries as memory institutions and the legal problems and cultural issues connected with them, especially against the background of the challenges of digitalisation.
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Links and Downloads:
Eric W. Steinhauer: Wissen ohne Zukunft? Der Rechtsrahmen der digitalen Langzeitarchivierung von Netzpublikationen (PDF)
Licencse explanation: CC BY 4.0 International
Credit: Eric W. Steinhauer: "Wissen ohne Zukunft? Der Rechtsrahmen der digitalen Langzeitarchivierung von Netzpublikationen", in: Der Vergangenheit eine Zukunft - Kulturelles Erbe in der digitalen Welt, eine Publikation der Deutschen Digitalen Bibliothek, hrsgg. von Paul Klimpel und Ellen Euler, iRights Media: Berlin 2015, Seite 142 - 163. CC BY 4.0 International
The photo gallery for the publication: The Digitisation Process in Images - "A Future for the Past – Cultural Heritage in a Digital World"
Discussion with the editors Ellen Euler and Paul Klimpel on the release of the publication: "A Future for the Past – Cultural Heritage in a Digital World": the first publication by the Deutsche Digitale Bibliothek
Presentation of the publication at the Leipzig Book Fair: The first publication, multiple conversations and a (free) box-office hit: the Leipzig Book Fair
The publication is available as a book and as an e-book, but all of the contents are licensed with the Creative Commons Lizenz CC BY 4.0 International and can therefore be reused and further used when being credited. The book is already fully accessible in the e-reader on the publisher’s webpage.
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Index and Homepage Teaser Image: "Wikimedia Deutschland (Berlin)", Photographer: Jürgen Keiper, (CC BY 4.0)