100 Jahre Radio – Von Funkerspuk, Außerirdischen und einer Weihnachtstradition

12.10.2020 Wiebke Hauschildt (Online-Redaktion)

„All ships, all ships, all ships! … Good bye now! Good bye forever! … Hier ist Norddeich Radio, Norddeich Radio. Wir nehmen Abschied. Leben Sie wohl! Over and out.“ Das sind die Worte zum Sendeschluss des Seefunksenders am 31.12.1998, gesprochen von Funker Wolfgang Hellriegel. 

Als kaiserdeutsche Antwort auf die britische Vorherrschaft im Seefunk wird Norddeich Radio am 1. Juni 1907 in Betrieb genommen – über 90 Jahre sendet die kleine Station hinter dem Deich in der ostfriesischen Stadt Norden an Schiffe in aller Welt, bevor sie endgültig abgeschaltet wird. Gebraucht wird Norddeich Radio als Seenotfunkstation. Berühmt wird Norddeich Radio, indem es ab Weihnachten 1953 die Sendung „Gruß an Bord“ des Norddeutschen Rundfunks überträgt. 

Angehörige, Freunde und Familie von Seeleuten, die sich zu den Feiertagen auf hoher See oder in fernen Häfen befinden, können über die Sendereihe Botschaften an ihre Lieben senden – und umgekehrt. Zuhören können alle. Und so ist es für viele (vor allem) norddeutsche Familien heute noch Tradition, sich an Heiligabend die maritimen (und immer etwas fernwehbehafteten) Weihnachtsgrüße in und aus aller Welt anzuhören. Wenn auch nicht mehr bei Norddeich Radio. 

Die Wiege des Rundfunks und ein Jubiläum

Die Geschichte der öffentlichen Radiosender setzt etwas später als die Geburt des Seefunks Norddeich Radio an, die Geschichte der Technologie zur Übertragung von Nachrichten über Radiowellen etwas früher. Als Seefunkdienst startet Norddeich Radio mit Morseübertragungen, was sich aufgrund der rasanten technischen Entwicklung jedoch schnell zu Sprechfunkübertragungen ändert, und mit denen Schiffe auf der ganzen Welt erreicht werden können. Das Radio als Massenkommunikationsmittel lässt nicht viel länger auf sich warten, und so wird 2020 ein besonderes Jubiläum gefeiert: 100 Jahre Radio. Das zugehörige historische Datum ist der 22. Dezember 1920. 

Heute als „Wiege des Rundfunks“ bekannt, wird das Senderhaus 1 auf dem Funkerberg in Königs Wusterhausen bereits 1916 als „Zentralfunkstelle des Heeres“ in Betrieb genommen. Schon 1911 hatte man damit begonnen auf Pferdewagen mobile Sender aufzubauen, die durch Ballone in der Luft gehalten wurden. In den Jahren danach werden eine Funkerkaserne und große Antennenanlagen für das heute älteste Sendehaus Deutschlands errichtet. 

Mit Ende des Ersten Weltkriegs übernimmt die Deutsche Reichspost das Sendehaus als Hauptfunkstelle, um im Sommer 1920 mit ersten Versuchen zur Rundfunkübertragung zu starten. Dies geschieht auf Anregung von Dr. Hans Bredow, deutscher Hochfrequenztechniker und Ministerialdirektor im Berliner Postministerium. Der Begriff „Rundfunk“ stammt übrigens von eben diesem Herrn. Seine Techniker hatten im Dezember 1920 bereits viele Monate an einem Lichtbogensender gebastelt, der Sprache und Musik übertragen sollte. Am 22. Dezember ist es soweit: die erste Rundfunksendung Deutschlands, moderiert und gestaltet von Reichspostbeamten, geht über den Äther, beginnend mit den Worten „Hallo Hallo, hier Königs Wusterhausen auf Welle 2700“. Es folgt ein Weihnachtskonzert, der Rundfunk hat seine Wiege gefunden. 

Der Funkerspuk und seine Folgen 

Während in den Niederlanden und den USA das Radio bereits seit 1920 beliebt und verbreitet ist, gibt es in Deutschland ein paar Hürden für Sender und Zuhörende. Nicht nur muss man eine Lizenz zum Rundfunkhören käuflich erwerben, die Radiogeräte sind darüber hinaus genehmigungspflichtig. Nicht die besten Voraussetzungen für ein Massenmedium, in welches Hans Bredow so große Hoffnungen setzt: „Weit über die Grenzen der Länder hinaus wird Radio einst Bedeutung haben. Es wird die Völker zu einer großen Gemeinde zusammenschließen, und ihnen durch tägliches gemeinsames Erleben die Erkenntnis vermitteln, dass sie alle Glieder einer einzigen großen geistigen Gemeinschaft sind."

Grund für diese restriktiven Maßnahmen ist das Ereignis, das als „Funkerspuk“ in die Geschichte eingeht. Als Wilhelm II. am 9. November 1918 abdankt und das Kaiserreich in Deutschland endet, wird vom Sozialdemokraten Philipp Scheidemann um 14 Uhr die demokratische Republik ausgerufen und zwei Stunden später von Karl Liebknecht die freie sozialistische Republik. Am selben Tag wird die Zentrale des deutschen Pressenachrichtenwesens in Berlin vom revolutionären Berliner Arbeiter- und Soldatenrat besetzt, der den Sieg der radikalen Revolution (USPD, KPD, Spartakusbund) in Deutschland funkt. 

Das ist der SPD-Reichsregierung dann doch zu viel bzw. zu wenig Kontrolle ihrerseits. Die Einrichtung und der Betrieb von Funk- und Sendeanlangen wird zu einem hoheitlichen Recht erklärt – zur „Funkhoheit“. Ab 1923 wird darüber hinaus die Genehmigungspflicht für Radiogeräte und die Rundfunkgebühr eingeführt. 

Auf dem Höhepunkt der Inflation in der Weimarer Republik ist es der Berliner Zigarettenhändler Wilhelm Kollhoff, der die erste Rundfunklizenz erwirbt. Kostenpunkt: 780 Milliarden Papiermark. Selbst für damalige Verhältnisse kein Schnäppchen. Nichtsdestotrotz ist Herr Kollhoff einer der ersten (sehr wenigen) Zuhörer, die den offiziellen Start des Rundfunks in Deutschland miterleben können. Am 29. Oktober 1923 sendet die „Deutsche Stunde“ aus dem Vox-Haus am Potsdamer Platz: „Achtung, Achtung, hier ist die Sendestelle Berlin im Vox-Haus auf Welle 400 Meter! Meine Damen und Herren, wir machen Ihnen davon Mitteilung, dass am heutigen Tage der Unterhaltungsrundfunkdienst mit Verbreitung von Musikvorführung auf drahtlos-telefonischem Wege beginnt.“ Darauf folgt ein Foxtrott.

Ein Siegeszug, eine Presseintrige und die ARD

Gibt es 1923 nur insgesamt 500 registrierte Radioempfänger, sind zwei Jahre später bereits 500.000 Geräte in Umlauf. Hören im Oktober 1923 nur wenige Menschen die „Deutsche Stunde“, sind es ein halbes Jahr später bereits 100.000. Und müssen die frühen Hörer*innen anfänglich noch individuelle Kopfhörer tragen, gibt es ab 1925 Radios mit Lautsprechern, so dass das von Bredow beschworene Gemeinschaftsgefühl deutlich besser entstehen kann.  

Die existierenden Restriktionen machen es den Nationalsozialisten nach ihrer Machtübernahme 1933 leicht, das noch junge Medium zu kontrollieren und ideologisch in ihre Dienste zu stellen. Der Propagandaminister Joseph Goebbels lässt ein günstiges Radio produzieren, den im Volksmund „Goebbels Schnauze“ genannten „Volksempfänger“, und begründet so das Radio als Massenmedium. Mit dem Volksempfänger können die Nationalsozialisten ihre Propaganda über Mittelwelle rasch an die Zuhörer*innen bringen, das Hören von „Feindsendern“ ist verboten, die Weitergabe von Informationen aus „Feindsendern“ steht unter Todesstrafe. 

Nach dem Zweiten Weltkrieg entziehen die Alliierten Deutschland die Rundfunkkontrolle: Nie wieder soll das Radio ein zentrales Instrument der staatlichen Informationsvermittlung sein. Nach dem Modell der britischen BBC soll der Rundfunk organisiert werden: staatsfern, durch Gremien kontrolliert, durch Gebühren finanziert. 1949 gehen die Rundfunksender wieder zurück an Deutschland und die unterschiedlichen Sendeanstalten schließen sich zur Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten Deutschlands (ARD) zusammen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk, wie wir ihn heute kennen, ist geboren. 

Wie leicht das Radio Menschen fehlinformieren kann, hatten die amerikanischen Alliierten bereits in den Dreißigern herausgefunden, und zwar am 30. Oktober 1938. Einen Tag vor Halloween wird in New York und New Jersey das Hörspiel „Krieg der Welten“ von Orson Welles ausgestrahlt. Inszeniert wird die Sendung als fiktive Reportage: Welles lässt zwischen den „Nachrichten“, dass die Welt gerade von Außerirdischen angegriffen würde, immer wieder Musik spielen und vermittelt den Zuhörenden den Eindruck, es handele sich um das tatsächliche Radioprogramm. So zumindest schreiben es die Zeitungen am Tag darauf: Heftige Irritationen soll die Sendung bei der Bevölkerung ausgelöst haben, sogar von einer Massenpanik wird gesprochen. 

Orson Welles ist über Nacht berühmt. Aber ob die Bevölkerung der amerikanischen Ostküste wirklich von einer Alien-Invasion ausgegangen ist, ist heute umstritten. Jüngere Forschungsliteratur geht davon aus, dass der Tagespresse die Fantasie durchgegangen ist – vielleicht aus Sensationsgier, vielleicht um das Radio als konkurrierendes Medium als verantwortungslos darzustellen. Radiogeschichte wurde auf jeden Fall geschrieben. 

Zu guter Letzt: Ausstellungen, Frequenzen und frohe Feiertage

Wie es mit dem Radio weitergeht, lassen wir an dieser Stelle das Museum für Kommunikation in Berlin weitererzählen – „ON AIR. 100 Jahre Radio“ erzählt Erfolge, Brüche und Zukünfte des ersten elektronischen Massenmediums der Welt von seinen Anfängen bis heute. 

Von einer gewieften Bastlerbewegung erzählt das Rundfunkmuseum Fürth in unserer virtuellen Ausstellung „Geschraubt.Gelötet.Geleimt. Vom Selbermachen und Reparieren“. Das Radio besitzt eine lange Tradition des Selbermachens: Aufgrund der anfänglich teuren Anschaffungskosten und Restriktionen wurden die Menschen kreativ und bastelten sich ihre Radios selber. Warum die einzelnen Radioteile am Ende als Spielzeug verkauft werden mussten oder Bastler eine „Führerscheinprüfung“ brauchten, erzählt die Ausstellung ebenfalls.

Doch zurück zum anfänglich erwähnten Norddeich Radio: Im Sommer 2015 zieht ein kleines Museum in die Räumlichkeiten des Seefunksenders. Dort kann man heute zum Beispiel erleben, warum die „Knallfunkensender“ so heißen, wie sie heißen (es fliegen wirklich die Funken – die Geräte stehen unter Hochspannung!) und sich auf der Webseite alte „Gruß an Bord“-Sendungen anhören

Wir wünschen frohe Feiertage!

Wer an Heiligabend bei „Gruß an Bord“ reinhören möchte: In der Zeit von 19 bis 21 Uhr UTC (20.00 bis 22.00 Uhr MEZ) sendet die Kurzwelle über folgende Frequenzen (UTC ist die Abkürzung für die koordinierte Weltzeit, Universal Time Coordinated):

Gruß an Bord Frequenzen

In der Zeit von 21 bis 23 Uhr UTC (22.00 bis 24.00 Uhr MEZ) sendet die Kurzwelle über folgende Frequenzen:

Gruß an Bord Frequenzen 2
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